Was allein das Herz erkennt (German Edition)
nicht wahr sein!«
»So möchten wir es aber.«
»War das seine Idee?« Als ob der Schlag dann einfacher zu verdauen wäre.
»Nein, meine.«
»Aber warum ?«
May zog einen Stuhl heran und nahm neben ihr Platz. »Es mag seltsam klingen, aber wir lieben uns so sehr, dass wir den Rest nicht brauchen. Die Planung, die Gästeliste, den ganzen Aufwand …«
»Aber Kind, das kann ich doch alles für dich übernehmen!«
»Ich weiß. Du bist so gut zu mir, Tante Enid. Immer warst du für mich da. Wie eine zweite Mutter; ich bin ein richtiger Glückspilz.«
»Ach May.« Enid ergriff ihre Hand. »Und du warst immer wie eine Tochter für mich.«
»Bitte versteh doch, ich habe so viel von dir gelernt. Von dir, Mom und Granny. Wir beiden haben an die hundert Hochzeiten zusammen geplant, nein, noch mehr! Ich habe alle diese Erfahrungen und Erinnerungen in meinem Gedächtnis bewahrt.«
»Die Trowbridge-Hochzeit in der Kongregationskirche, die Paul-James-Feier im Silver Bay Club …«
»Martha Cullens Hochzeit im letzten Herbst, Caroline Renwicks Hochzeit letztes Jahr Weihnachten auf Firefly Hill … völlig überraschend, genau wie bei mir«, sagte May. Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorüber: Rosen, Efeu, Satin, Spitze, ellenlange weiße Tüllschleppen, Mütter und Väter, Schwestern und Brüder, kleine Mädchen, die Blumen streuten, Braut und Bräutigam.
»Ich habe sie im Kopf, alle Hochzeiten, die wir jemals geplant haben.«
»Deshalb sollten wir eine für dich ausrichten, damit du dich erinnerst.«
»Martin und ich möchten auf unsere Weise heiraten.«
Enid holte tief Luft.
»Seid ihr sicher?«
»Ja, das sind wir.«
Enid nickte ernst, dann hievte sie sich vom Stuhl hoch. Sie durchquerte den Raum, stellte sich zwischen die beiden Porträts, mit dem Rücken zur Wand. Obwohl sie so klein war, dass ihr Kopf gerade bis zur Unterkante der vergoldeten Rahmen reichte, bildete sie eine geschlossene Reihe mit Abigail Taylor und Emily Dunne.
»Dann habt ihr unseren Segen.«
»Danke, Tante Enid.«
Enid hob den Zeigefinger und wies auf die beiden Frauen, die in Öl auf Leinwand verewigt waren. May betrachtete ihre Mutter und ihre Großmutter. Die Porträts stammten von Hugh Renwick, dem berühmten Maler, der auf Firefly Hill gelebt hatte, einem Anwesen, das wenige Meilen entfernt an der Küste lag. Er hatte es den beiden Frauen nach der Hochzeit seiner Tochter Clea geschenkt. Hugh war schon lange tot, aber Caroline hatte, der Familientradition entsprechend, ihre Hochzeit im letzten Winter ebenfalls von Bridal Barn ausrichten lassen. Die Jahreszeiten und Generationen gingen nahtlos ineinander über, als Tante Enid stumm unter den Gemälden stand und nach oben deutete.
May war dazu erzogen worden, höflich und dankbar zu sein, und sie wusste, worauf Tante Enid wartete.
»Danke, Mom«, sagte sie mit Blick auf das Porträt ihrer Mutter. »Und danke, Granny«, sagte sie, an das Bild ihrer Großmutter gerichtet.
*
Die Zeit wurde knapp und obwohl sie nicht groß feierten, mussten Vorbereitungen getroffen werden. May wählte ein Brautkleid aus der Bodenkammer der Scheune aus und kaufte ein hübsches Kleid für Kylie. Kurz vor der Abreise überreichte Tobin ihr eine kleine Schachtel und bedeutete ihr, sie zu öffnen.
»Es wäre doch nicht nötig gewesen, mir ein Geschenk zu machen.«
»Es ist kein Geschenk, sondern etwas Geborgtes, wie es der Tradition entspricht.«
Ihre Finger zitterten, als May das Einwickelpapier entfernte. Als sie die Schachtel öffnete, lag ein schmaler Ring darin. Es war Tobins Klassenring aus der sechsten Klasse der Grundschule in Black Hall. May hatte den gleichen gehabt, aber schon vor langer Zeit verloren.
»Er ist winzig«, sagte May.
»Probier ihn auf dem kleinen Finger.«
May versuchte es und er passte. Das Gold war glatt und vom Tragen abgewetzt, der schwarze Stein stark verkratzt.
»Wir haben gemeinsam so viele große Hochzeitsfeiern erlebt, wir brauchen nicht noch eine«, sagte Tobin.
»Ach Tobe, danke, dass du es so siehst.« May redete sich ein, sowohl Tobin als auch Tante Enid überzeugt zu haben.
»Du heiratest Martin, und ich freue mich für dich, mehr als ich sagen kann. Ich werde in Gedanken bei dir sein.«
»Das bist du immer, Tobe. Und das warst du immer.«
*
Mays Mutter und Großmutter hatten ihr geraten, sich immer auf ihre innere Stimme zu verlassen. Und so packte May an Kylies letztem Schultag die Koffer und verabschiedete sich mit einem Kuss von Tante Enid
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