Was allein das Herz erkennt (German Edition)
hat es dir gesagt.«
»Natalie!« Kylie rief lauter.
»Ich bin der Grund dafür, dass du Engel siehst«, hörte Kylie die Stimme des kleinen Mädchens. »Es gibt etwas, was ich dir sagen muss.«
»Mir?«
»Es hat mit meinem Vater zu tun«, sagte Natalie. »Du musst ihm helfen.«
Wie denn, dachte Kylie.
»Menschen können blind sein, nicht nur mit den Augen«, sagte Natalie. »Sie können auch blind für die Liebe und für die Wahrheit sein.«
»Ich vermisse sie«, sagte Martin und sah dabei so traurig aus, als er den schimmernden weißen Engel auf der gegenüberliegenden Seite des Sees ansah und direkt durch ihn hindurchblickte. »Deshalb war ich vorhin so außer mir.«
»Sie vermisst dich auch.« Kylie versuchte, sich auf beides gleichzeitig zu konzentrieren.
»Deine Mutter hat mir erzählt, dass du wissen möchtest, ob du mich Martin oder anders nennen sollst«, sagte er und ging neben ihr in die Hocke.
»Anders …« Kylies Kehle war zugeschnürt, so dass sie das Wort kaum herausbrachte.
»Pass gut auf und hör aufmerksam zu«, sagte Natalie. »Er braucht dich.«
»Du kannst Daddy zu mir sagen. Wenn du möchtest. Ich wäre sehr glücklich darüber.«
Daddy , dachte Kylie. Das Wort klang wie Musik in ihren Ohren, so richtig und wunderbar. Sie hatte noch nie jemanden Daddy genannt, hatte noch nie einen Daddy gehabt, hatte das Wort nie benutzt, außer wenn sie mit ihren Puppen sprach. Als sie an Puppen dachte, blickte Kylie auf die andere Seite des Sees, zu Natalie hinüber.
Sie war verschwunden.
Alles, was geblieben war, war ein weißer Schimmer auf dem Wasser, als spiegelte sich die ganze Milchstraße darin wider. Ein ganzer Schwarm Leuchtkäfer hatte sich dort gesammelt, flog nun in einer dichten Wolke, einem Schatten auf der Oberfläche des Wassers folgend, zurück über den See. Als der Schatten das diesseitige Ufer erreichte, sah Kylie, dass es der Korb war. Er war leer.
Natalie hatte ihre Puppe mitgenommen. Es war nichts mehr im Korb, außer einer weißen Feder, wie von einem der Schwäne, die auf dem Lac Vert lebten.
»Daddy«, flüsterte Kylie.
Martin hob Kylie auf den Arm, als wäre sie seine eigene Tochter, gerade in dem Moment kam ihre Mutter, um nach ihnen zu sehen, und schmiegte sich in seinen freien Arm. Während sie neben dem alten Pavillon standen, wo gerade die Trauung stattgefunden hatte, beobachtete Kylie die beiden Erwachsenen und wusste, dass sie endlich den lang ersehnten Vater hatte.
8
W ährend der Flitterwochen verbrachten sie die heißen strahlenden Sommertage faulenzend am Ufer des Lac Vert. Es begann mit der Hochzeitsnacht, nachdem Kylie zu Bett gegangen war und die Gardners sich erboten hatten, Tobin und Tante Enid zum Flughafen zu fahren. Martin lebte hier seit vielen Jahren und seine Nachbarn am Lac Vert achteten wie die Schießhunde darauf, seine Privatsphäre zu schützen. Er versicherte May, dass kein Wort von ihrer Heirat durchsickern und kein Reporter ihnen die Flitterwochen verderben würde.
Es war das erste Mal seit der Trauung, dass sie allein waren, das erste Mal, dass sie das Bett miteinander teilten. May zog sich im Badezimmer aus, ihre Finger zitterten, als sie den Reißverschluss ihres Kleides öffnete. Sie hatte sich für diesen Anlass ein verführerisches pfirsichfarbenes Seidennegligee gekauft, aber plötzlich stellte sie fest, dass sie es im Schlafzimmer vergessen hatte, wo nun Martin wartete. Notgedrungen zog sie sein altes weißes Hemd an, das an der Innenseite der Tür hing.
Als sie durch den Korridor im ersten Stock ging, sah sie, dass die Tür zum Schlafzimmer nur angelehnt war. Schatten tanzten an der Decke. Als sie das Schlafzimmer betrat, lag Martin auf dem alten Eisenbett. Sie hatte vorgehabt, ihr Nachthemd zu holen, das noch in Seidenpapier verpackt war, und sofort ins Bad zurückzukehren, um es anzuziehen, aber als sie am Bett vorüberkam, sah sie seine nackte Brust und Schulter im Schein einer blauen Kerze schimmern. Er packte sie am Handgelenk und hielt sie fest.
»Wo willst du hin?«
»Mich umziehen –«
»Komm her.« Er zog sie zu sich herab. Sie setzte sich auf die Kante, aber er schlug das Laken zurück und machte ihr Platz, nahm sie in die Arme. Sie sahen sich an, mit strahlenden Augen, Gesicht an Gesicht, und er küsste sie sanft.
»Bleib doch hier«, flüsterte er. »Du musst dich nicht umziehen.«
»Doch. Du sollst dich immer daran erinnern –«
»An diese Nacht? Das werde ich auch so, May. Mach dir deswegen keine
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