Was allein das Herz erkennt (German Edition)
erwähnt. Eine Überreaktion.«
»Schon gut.« Sie umarmte ihn. Sie zitterte, offenbar hatte sie Lampenfieber wie alle Bräute. Es ging auch alles viel zu schnell. Zum ersten Mal seit Tagen hatte sie ein ungutes Gefühl, was die überstürzte Heirat betraf. Sie war plötzlich sehr froh, dass Tobin mitgekommen war.
Es war mit Sicherheit ganz natürlich, dass es Martin schwer fiel, an einem solchen Tag über Natalie zu sprechen: Sie war schließlich ein Teil der Familie, hätte dabei sein sollen, um den Beginn eines neuen gemeinsamen Lebens zu feiern. Martin war in solchen Dingen verschlossen, während May das Bedürfnis hatte, über alles zu reden. Sie würden einen Kompromiss finden müssen.
»Hmm, es gibt da jemanden, den ich anrufen möchte«, sagte Martin und brachte das Gespräch wieder auf das sichere Terrain der Hochzeitsvorbereitungen zurück. »Ray Gardner. Es ist an der Zeit, dass du ihn und seine Frau Genny kennen lernst. Du wirst sie mögen. Und es ist Zeit, dass ich den beiden meine Familie vorstelle.«
*
»Ich wollte dich etwas fragen«, sagte Martin mit einem Blick auf die Uhr. Er telefonierte mit Ray, der mit seiner Frau und den Kindern einige Meilen weiter nördlich am anderen Ufer des Lac Vert lebte.
»Nur zu. Übrigens, warum kommst du nicht rüber? Ich trinke gerade Kaffee.«
»Keine Zeit. Hättet ihr beide Lust, Genny und du, meine Trauzeugen zu sein?«
Ray ließ seinen Kaffeebecher fallen. Martin hörte, wie er in Scherben zersprang, als Ray einen Mund voll Kaffee herausprustete. »Deine was ?«
»Das ist eine lange Geschichte. Was ist, oui ou non ? Ich brauche Trauzeugen.«
»Das kann doch noch nicht allzu lange gehen. Ich habe dich vor drei Wochen zum letzten Mal zu Gesicht bekommen und da sahst du einsam und zum Erbarmen aus. Also: Oui .«
»Dann beeilt euch und kommt her. Ich möchte, dass ihr die schönste Frau der Welt kennen lernt.«
7
D ie Trauung fand in der Abenddämmerung statt. Der Pavillon war mit Girlanden aus Lorbeer, Gänseblümchen und Geißblatt geschmückt, und Tante Enid und Kylie hatten an die hundert Papierschiffchen gefaltet, sie mit Teelichtern versehen und auf die spiegelglatte Oberfläche des Sees hinausgeschickt. Zwischen Tante Enid und den Gardners sah Father James Beaupré sehr würdevoll in seiner schwarzen Robe aus. Martin, im grauen Anzug, sah den Brautzug als Erster.
Kylie ging an der Spitze der kleinen Prozession, die vom Haus hinunterkam. Sie trug ein blassgelbes Kleid und hielt einen Korb mit Wildblumen in der Hand. Gemessenen Schrittes streute sie Butterblumen auf den Weg und hielt hin und wieder an, um zu sehen, ob Tobin ihr auch folgte – sie war schließlich die Brautführerin.
Und dann kam May.
Ihr Brautkleid war aus Baumwollsatin in einem noch zarteren Gelb, so cremig im Farbton, dass er zur Perlenkette ihrer Großmutter passte, die sie um den Hals trug. Sie hatte das Kleid auf dem Dachboden von Bridal Barn gefunden, wo ihre Großmutter die schönsten und kostbarsten alten Brautgewänder aufbewahrte.
Es war sehr schlicht, hochgeschlossen und wadenlang, doch als sie Martin ansah, spürte sie, wie sie errötete. Kylie und Tobin führten die Braut feierlich dem Bräutigam zu und beobachteten, wie sie sich die Hand reichten. Father Beaupré begann mit der Zeremonie. Er sprach Englisch mit einem ausgeprägten französischen Akzent. Es war windstill, doch mit zunehmender Dunkelheit wurde die Luft kühler. May trat instinktiv einen halben Schritt näher an Martin heran, um seine Wärme zu spüren.
Eine Hochzeit in aller Stille hatte viele Vorteile, und May konnte nicht umhin, an sie zu denken, als sie nun neben dem Mann stand, dem sie gleich in ehelicher Gemeinschaft verbunden werden sollte. In aller Stille bedeutete: keine lange Gästeliste, kein sorgfältig ausgewählter Bibelspruch, keine Orgel, kein Bläserquintett und kein Solist, keine imposante Kirche und kein luxuriöser Empfang für die Gratulanten, kein Schleier und keine Schleppe, und keine handgeschriebenen Platzkarten.
In aller Stille bedeutete auch: die Anwesenheit guter Freunde, Lichter auf dem See, Sterne am dunkellila Firmament, die Rufe der Nachteulen, die von den Bergen hinabschallten, Tobin, die ohne Unterlass schniefte, Kylie, deren Wildblumenkranz ständig über das eine Auge rutschte, Genny Gardner, die ihn liebevoll zurechtrückte, als hätte sie Kylie ein Leben lang gekannt, und die schlichteste Trauformel, die sie je gehört hatte.
»Willst du, May, diesen Mann
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