Was allein das Herz erkennt (German Edition)
versuchte sie zu beruhigen.
»Was ist mit ihr passiert?« Kylie schluchzte laut heraus.
»Kylie, nicht weinen. Bitte –«
»Ist sie im See ertrunken?« Kylie blickte Martin an. »Ja?«
»Nein, Kylie.« Martins Stimme klang müde. Seine Schultern sackten nach unten, er ließ die Ruder ruhen, blickte starr auf die Berge. Er schien plötzlich die Kälte zu spüren und griff nach seinem Hemd. Als er es anzog, fiel Mays Blick abermals auf das Labyrinth der Narben, das sich kreuz und quer über seine Brust zog. Schaudernd zog sie Kylie an sich. »Sie ist nicht ertrunken«, sagte Martin.
»Ich möchte gerne Daddy zu dir sagen, aber ich kann nicht, solange du mir nicht erzählst, was mit ihr passiert ist. Ich kann nicht, ich kann nicht«, rief Kylie weinend.
May hielt den Atem an. Einen Moment lang befürchtete sie, dass Martin kein Wort mehr sagen und Kylie in der Ungewissheit lassen würde, was mit seiner Tochter geschehen war. Kylie versuchte, ihrer Tränen Herr zu werden, holte tief Luft, um das Schluchzen zu unterdrücken. May umfing sie mit ihren Armen; Martin musste antworten, nicht nur Kylies, sondern auch ihretwegen.
»Martin! Sag es ihr, bitte!«, drängte May mit einem flehendem Blick.
Er öffnete den Mund, seine Augen waren schmerzerfüllt. Er blickte Kylie an, als suchte er nach Worten für eine Erklärung, aber dann erlosch das Gefühl in seinen Augen.
»Martin?« Mays Herz begann zu hämmern.
»Ich … ich kann nicht über Natalie reden.« Sein Blick war kühl und seine Stimme fest. »Tut mir Leid. Aber sie ist nicht ertrunken. Reicht das, Kylie?«
»Ich sage nicht Daddy zu dir.« Kylie weinte, an Mays Knie geschmiegt. »Sie hat gesagt, ich soll, und dass ich …«
»Wer ist ›sie‹?«, hakte May nach, auch wenn sie Angst vor der Antwort hatte, und drückte Kylie an sich.
»Natalie«, erwiderte Kylie, noch immer völlig aufgelöst.
»Natalie hat dir gar nichts gesagt«, herrschte Martin sie wütend an.
»Hat sie wohl!«
»Erzähl nicht solchen Unsinn! Natalie ist tot!«, brüllte Martin.
»Martin, hör auf damit!« May packte seinen Arm. »Du weißt, sie sieht –«
»Großer Gott …«, begann Martin, dann schluckte er den Rest herunter.
»Sie hat mit mir gesprochen. Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht, aber ich sage nicht Daddy zu dir«, schluchzte Kylie. »Ich sage Martin zu dir, für immer und ewig.«
»Das tut mir Leid«, entgegnete Martin, aber sein Blick war ausdruckslos. Er sah aus wie ein Mann, der nicht aus seiner Haut heraus kann, und er versuchte auch nicht, Kylie umzustimmen. Den Schlag auf der linken Seite verstärkend, änderte er abrupt die Richtung. Das Licht, das durch die Kiefern am Westufer fiel, schien nun in Mays Augen. Martin ruderte nach Hause statt zu den Gardners und für den Rest des Weges sprach keiner mehr ein Wort.
9
G enny rief an, um sich zu erkundigen, wo sie blieben, und May sagte, Kylie habe schlecht geträumt und es sei besser, wenn sie die Nacht zu Hause verbringe. Sie fühlte sich beklommen, als sie daran dachte, wie einsilbig Martin gewesen war, seit Kylie ihn nach Natalie gefragt hatte. Aber sie erklärte Genny nur, sie werde sich morgen melden und mit Charlotte eine andere Zeit zum Babysitten ausmachen.
An diesem Abend war Martin schweigsamer als je zuvor. Er brachte kaum ein Wort über die Lippen. Als May in seine Augen sah, erkannte sie ihn kaum wieder. Sein Gesicht war eine Maske, leer und ausdruckslos. May bereitete Steaks und gebackene Kartoffeln zum Abendessen zu, aber er sagte, er sei nicht hungrig. Sie saß allein mit Kylie am Küchentisch und zwang sich zu essen, damit Kylie auch etwas zu sich nahm.
»Können wir reden?«, fragte sie, als sie den Abwasch gemacht und Kylie ins Bett gebracht hatte. Martin saß im Wohnzimmer, ein Magazin auf dem Schoß, und starrte Löcher in die Luft. Eine Energie ging von ihm aus, eine Kraft, die ausgereicht hätte, um Möbel zu verrücken.
»Es gibt nichts zu reden.«
»Kylie spricht mit Engeln. Erinnerst du dich, im Flugzeug? Als sie wusste, dass wir notlanden mussten?«
»Das hat sie sich eingebildet. Du hast doch selbst gesagt, dass sie das Foto in meiner Brieftasche gesehen und sich deshalb diese verrückte Idee in den Kopf gesetzt hat.«
May nickte. »Natalies Foto, ja. Ich glaube, dass Ereignisse, die wirklich stattfinden, eine Art Sprungbrett für Kylies Träume und Fantasien sind. Hast du das blaue Tagebuch gesehen? Darin geht es im Kylie. Ich schreibe alles auf, was sie mir
Weitere Kostenlose Bücher