Was allein das Herz erkennt (German Edition)
von ihren ›Visionen‹ erzählt.«
»Ich weiß. Ich habe dich dabei beobachtet.«
»Manche von ihnen handeln von Natalie.«
»Aber sie kennt sie nicht einmal.«
»Das spielt keine Rolle«, sagte May nachdrücklich. »Für Kylie ist sie völlig real. Kylie betrachtet Natalie als ihre Schwester.«
»May, hör auf! Sie hört auch Fische weinen. Sie hat eine lebhafte Fantasie, das ist alles.«
»Es geht dabei immer um das Thema Familie. Es ist stets dasselbe Muster. ›Fische haben auch eine Familie.‹ Genau das hat sie gesagt. Erinnerst du dich?«
»Mach, was du willst, aber ohne mich. Ich will die Vergangenheit ein für allemal begraben, hörst du? Eine Grube ausheben und weg damit! Ich weiß, dass du dich um Kylie sorgst und dass du Tagebuch schreibst. Aber bitte, May, lass mich aus dem Spiel. Und Natalie. Ich habe keine Lust, über sie oder die Vergangenheit zu reden. Die Vergangenheit steht auf einem anderen Blatt, ist ein anderes Kapitel, aus und vorbei.«
May blickte ihn an. »Ich glaube, das siehst du falsch«, entgegnete sie, plötzlich mit kaum verhohlener Wut. »Sie ist keineswegs aus und vorbei, sondern Teil der Gegenwart, unserer Gegenwart.«
Er sprang auf und stürmte hinaus, knallte die Fliegengittertür hinter sich zu und May sah, wie er zum See hinunterlief, um die Kurve bog und verschwand. Sie brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte. Sie war immer der Ansicht gewesen, dass die Ehe eine Privatangelegenheit war und Paare ihre Probleme unter sich lösen sollten, aber plötzlich hatte sie den Telefonhörer in der Hand und wählte Tobins Nummer.
»Ich bin’s«, sagte sie, als Tobin sich meldete.
»Und, wie sind die Flitterwochen?«
»Vorbei, bevor sie begonnen haben. Ich bin wütend, ich schwöre dir, ich könnte –«
»Ach du liebe Zeit, schieß los.«
»Martin hat sich einfach aus dem Staub gemacht.« Sie holte tief Luft.
»Was ist passiert?«
May erzählte ihr, dass Kylie nach Natalie gefragt und wie Martin reagiert hatte. »Er will die Vergangenheit ein für allemal begraben. Er hat keine Lust, über seine Tochter zu sprechen, und Kylie träumt andauernd von ihr.«
»Typisch Kylie. Sobald ihre Fantasie angeregt wird, nehmen ihre Träume Gestalt an.«
»Du kennst sie in- und auswendig«, sagte May, dankbar, dass es Tobin gab, und immer noch wütend auf Martin. »Ich hätte dich heiraten sollen, verdammt.«
»Das wussten wir doch immer, dass wir beide gut zusammenpassen. Aber Spaß beiseite, Martin wird sie bald besser kennen. Ich weiß, dass du es nicht gerne hörst, aber lass ihm Zeit. Das ist der beste Rat, den ich einer frisch gebackenen Ehefrau geben kann. Ihr müsst euch erst aneinander gewöhnen.«
»Er ist losgerannt wie ein Verrückter, um von mir wegzukommen.«
»Dann solltest du die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Erinnerst du dich an die vielen Überstunden, die ich gemacht habe, als John und ich frisch verheiratet waren? Wie lange ich abends im Bridal Barn gearbeitet habe?«
»Aber du hast das Geld doch gebraucht, um die Anzahlung für euer Haus zu leisten, denke ich.«
»Das auch. Aber noch wichtiger war, dass jeder seinen Freiraum brauchte, damit wir uns nicht die ganze Zeit in den Haaren lagen.«
»Und dabei war es doch bei euch auf beiden Seiten die allererste große Liebe.« May wünschte, das gälte auch für Martin und sie. »Keiner von euch beiden war vorher verheiratet oder hatte Kinder mit einem anderen Partner. Du hattest Recht mit der Lebensgeschichte, die schon zur Hälfte geschrieben ist.«
»Inwiefern?«
»Wir haben beide eine Menge Gepäck mit in die Ehe gebracht, Altlasten, die man mit sich herumschleppt. Obwohl ich nicht mit Gordon verheiratet war –«
»Die Narben sind geblieben.«
»Es macht mich verrückt, dass er so stur ist und nicht mit seinem Vater sprechen will«, sagte May, an die sichtbaren Narben denkend.
»Weil du dir wünschst, du könntest mit deinem Vater sprechen.«
»Und dass er mir nichts über Natalie erzählt.«
»Gib ihm Zeit«, wiederholte Tobin mit einer Stimme, die alt und weise klang.
May lachte.
»Ich bin froh, dass du mich angerufen hast, May. Ich hatte schon Angst, dass du mir den Laufpass gegeben hast, wegen Genny Gardner. Sie ist nett, findest du nicht?«
»Ja, sehr.«
»Wird sie mir den Rang ablaufen?«
»Keine Bange, ich habe schon eine beste Freundin.«
»Wenn du meinen Rat hören willst: Du solltest versuchen, alleine mit ihm zu reden. Wenn es nichts bringt, die entgegengesetzte Richtung
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