Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Serge, er hat einiges auf dem Kerbholz und sich selbst und allen anderen geschadet. Martin hasst ihn.«
»Ich weiß.«
»Das war nicht immer so. Als Kind hat Martin ihn geradezu vergöttert. Er war ungeheuer stolz, einen Vater zu haben, der so Eishockey spielen konnte! Er war das große Idol, für Martin und für Ray. Stell dir vor, wie das ist, wenn man hier draußen in der Wildnis lebt, ständig in den Zeitungen von seinen Heldentaten liest und sämtliche Freunde nur noch ein Thema haben.«
»Aber stell dir auch vor, wie das für Martin gewesen sein mag, ständig darauf zu warten, dass er irgendwann wieder nach Hause kam«, sagte May. Sie konnte nachempfinden, wie sehr ihr Mann in seiner Kindheit unter der Abwesenheit des Vaters gelitten hatte.
»Das natürlich auch«, gab Genny zu.
»Gerade weil er seinen Vater so bewundert und geliebt hat, muss die Enttäuschung später umso schlimmer gewesen sein.« May erinnerte sich an das Gespräch im Boot. »Er fühlte sich von Serge im Stich gelassen, verraten.«
»Serge hat den Eishockeysport verraten. Seine Mannschaft, die Fans, Kanada. Er hatte schon immer einen fatalen Hang zu Glücksspielen, aber die eigentlichen Schwierigkeiten fingen an, als er gegen sein eigenes Team wettete und die Sache aufflog. Er hat die ganze NHL verraten und verkauft.«
»Das ist nicht halb so schlimm wie den eigenen Sohn im Stich zu lassen.«
»Martin ist ein Glückspilz, dass er dich hat.« Genny nickte. »Ich bin froh, dass du ihn von dieser Warte aus siehst.«
»Aus welcher Warte?«
»Für dich ist er ein Mensch aus Fleisch und Blut, ein gewöhnlicher Sterblicher, ein Mann, der früher einmal ein empfindsamer kleiner Junge war. Die meisten sehen nur die Fassade – den Goldenen Vorschlaghammer, den großen Starverteidiger, das attraktive Raubein mit Killerinstinkt, einen Raufbold, der sich keine Gelegenheit zum Kampf entgehen lässt. Zumindest haben ihn die meisten seiner anderen Frauen –« Genny hielt abrupt inne. »Oh, tut mir Leid, May.«
»Schon gut.« May reichte Genny einen Teller mit Toast und schraubte das Glas mit der Erdbeermarmelade auf. »Wir sind beide kein unbeschriebenes Blatt. Ich weiß, dass er verheiratet war. Und ich konnte nicht umhin, in dem Sack Fanpost, der gestern kam, die vielen Umschläge mit Frauenhandschrift zu bemerken.«
»Daran wirst du dich gewöhnen müssen«, sagte Genny. »Sogar Ray erhält jede Menge, und dabei wurde er nie zum ›attraktivsten Athleten seiner Zeit‹ gekürt. Und das, obwohl er seit vierzehn Jahren mit mir verheiratet ist!«
»Du überlegst wahrscheinlich, wie es kommt, dass ich so plötzlich in seinem Leben aufgetaucht bin. Und wieso Martin und ich so schnell geheiratet haben.«
»Wir finden es unheimlich spannend. Ich kenne Martin fast so lange wie Ray. Ich bin in Ste-Anne-des-Monts aufgewachsen, einer kleinen Ortschaft im benachbarten Tal. Die beiden waren schon damals herausragende Läufer auf dem Eis und wir haben oft darüber gelacht, dass ich sozusagen ihr erster ›Groupie‹ war, du weißt schon, die Mädels, die sich wie Kletten an die großen Stars hängen. Aber umgekehrt war es genauso: Ich habe an den Olympischen Winterspielen teilgenommen, als Mitglied der kanadischen Skimannschaft.«
»Noch eine berühmte Hochleistungssportlerin.« May war beeindruckt.
»Das ist schon lange her.«
»Ihr seid schon seit Ewigkeiten befreundet, wie ich sehe.«
»Gerade deshalb bin ich so froh, dass es dich gibt. Ich habe es satt, mir ständig alleine den Kopf über Martin zu zerbrechen. Und bei den Spielen in der Box zu sitzen und zu bibbern, ohne jemanden zu haben, mit dem ich Freud und Leid teilen kann. Warte ab, bis die Presse Wind davon bekommt, dass er verheiratet ist. Die werden dich belagern.«
»Die haben kein Interesse an mir. Ich bin nichts weiter als eine Hochzeitsplanerin, die sich verliebt hat.«
»Ja, in Martin Cartier. Du wirst schon sehen, was du davon hast.«
May lachte, aber sie ging nicht weiter darauf ein, sondern wollte lieber die Gelegenheit nutzen, um mit Genny über Natalie zu sprechen.
In diesem Augenblick hörte sie draußen Stimmen. Die Fliegengittertür öffnete sich quietschend und Kylie stürmte herein. Martin folgte ihr mit den Angeln, seine Miene war besorgt.
»Mommy, ich habe einen Fisch gefangen. Es war nicht der Urgroßvater. Aber er war ziemlich groß.« Kylies Gesicht war blass.
»Und, wo ist er?«, fragte Genny lächelnd.
»Kylie wollte ihn unbedingt wieder ins Wasser
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