Was allein das Herz erkennt (German Edition)
und wollte sich vergewissern, dass Kylie sie an ihren Platz zurückgelegt hatte. Die Puppe schien spurlos verschwunden zu sein, aber jedes Mal, wenn May einen Raum betrat, entdeckte sie etwas darin, was ihr beim vorigen Mal entgangen war. Familienfotos, eine Fossilien-Sammlung, eine alte ledergebundene Bibel, bestickte Kissen auf der Rückenlehne eines Sofas, gerahmte Fotografien vom See und von den Bergen. Heute fand sie einen Korb mit Strickzeug – ein roter, halb fertiger Pullover – neben dem Armsessel im Wohnzimmer. Sie ging in die Hocke, um ihn näher in Augenschein zu nehmen, als eine Stimme sie aufschreckte.
»Das gehörte Agnes«, sagte Genny Gardner. Sie stand auf der Türschwelle, ein Einmachglas in der Hand.
»Oh, hallo!«, rief May und erhob sich.
»Ich habe dir Erdbeermarmelade mitgebracht, die ich gestern eingekocht habe. Du musst wissen, dass die Erdbeeren am Lac Vert das beste Aphrodisiakum sind, das man sich nur vorstellen kann. Ideal für die Flitterwochen! Aber ich will ehrlich sein, das ist nur ein Vorwand, weil ich neugierig bin.«
May lächelte, als Genny die Hände hob, als hätte man sie auf frischer Tat ertappt.
»Ich habe Martin und Kylie auf dem See angeln sehen, deshalb wusste ich, dass du alleine zu Hause bist. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, ich musste auf einen kleinen Plausch vorbeikommen! Außerdem habe ich Tobin versprochen, bei dir hereinzuschauen und mich zu vergewissern, dass du zurechtkommst.«
»Ich freue mich, dass du da bist. Es war ein seltsames Gefühl, dass ich Martins beste Freunde erst bei unserer Hochzeit kennen gelernt habe. Wir hätten euch vorwarnen sollen. Tobin meinte, ihr wäre es lieb gewesen, wenn wir ein halbes Jahr vorher mit der Sprache herausgerückt wären. Ray ist bestimmt aus allen Wolken gefallen!«
Genny lachte. »Er war zunächst überrascht, aber er hat sich für Martin gefreut. Ich fand die Hochzeit herrlich. Romantischer geht es nicht.«
»Wirklich? Danke.« May strahlte. »Wie wär es mit einer Tasse Kaffee? Und Toast für die Marmelade?«
»Da sag ich nicht nein.« Genny folgte May in die Küche und holte den Kaffee heraus, während May den Topf ausspülte. Dann stellte sie die Marmelade auf den Tisch und öffnete eine Schublade, um ein Messer herauszunehmen, aber plötzlich hielt Genny inne. Es war offensichtlich, dass sie sich in der Küche auskannte, doch sie wollte May nicht das Gefühl geben, eine Fremde in ihrem eigenen Haus zu sein. May wusste die Geste zu schätzen und bedankte sich mit einem Lächeln.
»Agnes war Martins Mutter?«, fragte May, als sie es sich am Kieferntisch gemütlich gemacht hatten.
»Ja. Sie war eine wundervolle Frau. Ray liebte sie fast wie seine eigene Mutter, und das will etwas heißen. Schade, dass sie vor deiner Zeit gestorben ist. Sie wäre glücklich darüber, dass Martin endlich sesshaft geworden ist, eine Familie gegründet hat.«
»Ich dachte, Martin hätte gesagt, sie sei schon seit einigen Jahren tot.«
»Ja, schon lange. Oh, du meinst, weil ihr Strickzeug noch daliegt?«
Genny lächelte. Klein und zierlich, mit blonden Haaren und großen grauen Augen, strahlte sie Herzlichkeit und Wärme aus. »Martin kann sich offenbar nicht dazu durchringen, es wegzuräumen. Könnte ich mir zumindest vorstellen. Er hat eine harte Schale, ist ein richtiges Raubein und der größte Raufbold in der NHL, aber er hat einen butterweichen Kern; ich glaube, er vermisst seine Mutter. Sie hatte eine Vorliebe für Handarbeiten aller Art, vor allem Sticken und Stricken, aber sie war auch so etwas wie ein Coach für Martin und Ray, als sie noch Kinder waren und mit dem Eislaufen begannen, und nicht zu vergessen, sie hat ihn wieder aufgerichtet, nachdem – Gott, nach allem, was passiert war.«
»Du meinst, als seine Tochter starb?«
»Vor allem das. Aber in gewisser Hinsicht kam alles zusammen. Die Scheidung, Serges Gefängnisstrafe. Martin war nahe daran, den Verstand zu verlieren. Er verschwand für zwei Wochen von der Bildfläche und Ray machte sich ernsthaft Sorgen, dass er endgültig abtauchen würde.«
May hatte unzählige Fragen. Sie wollte mehr darüber wissen, aber von Martin selbst. Deshalb hielt sie sich zurück, schenkte Kaffee ein und hörte schweigend zu.
»Agnes war wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Typisch für die Mütter und Ehefrauen von Eishockeyspielern, du wirst sehen.«
»Sie war doch auch mit einem Eishockey-Profi verheiratet, oder?«
»Ja, Serge war Profi. Armer
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