Was allein das Herz erkennt (German Edition)
zurückwerfen«, sagte Martin. »Und das haben wir dann auch gemacht.«
»Fische haben auch eine Familie.« Kylies Stimme klang erregt. »Es war nicht schlimm, dass wir ihn gefangen haben, weil wir ihn ja wieder freilassen wollten, oder Mommy?«
»Richtig, Liebes.«
»Sie hat sich die Ohren zugehalten«, erklärte Martin. »Weil der Fisch so laut jammerte und weinte.«
»Aber er hat aufgehört.« Kylie blickte May beunruhigt an. »Sobald wir ihn wieder ins Wasser geworfen haben. Er hatte überall Flecken. Er ist gleich weggeschwommen, zurück zu seinen Kindern.«
»Du hast den Fisch weinen hören?«, fragte Genny lächelnd. »Herrlich, wenn Kinder so viel Fantasie haben!«
Kylie blickte May beschwörend an. »Bring mich nicht wieder zum Doktor. Ich will nicht zu ihm. Er glaubt mir nicht, aber du schon, oder? Du glaubst mir doch, dass der Fisch gejammert und geweint hat?«
»Ja, das tue ich, Liebes.«
May umarmte Kylie, ihr sensibles kleines Mädchen. Auch sie hatte als Kind kein Lebewesen töten können, nicht einmal Käfer oder Mücken. Als sie mit Kylie das letzte Mal bei den Psychologen gewesen war, hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie ihre Tochter wie eine seltene Spezies behandelten. Wo lag die Wahrheit?
»Ich bin froh, dass wir den Fisch freigelassen haben.«
»Ich auch«, sagte May.
*
Mays Befürchtungen verflüchtigten sich in der Hitze und im Licht des Sommers am Lac Vert. Charlotte, die Tochter der Gardners, bot sich an, auf Kylie aufzupassen und sie über Nacht dazubehalten, und May war einverstanden. Die drei – Martin, May und Kylie – gingen den ganzen Tag lang angeln und machten ein Picknick auf der Insel. Martin und May freuten sich auf die erste Nacht in den Flitterwochen, die sie alleine verbringen würden. Sie ruderten zur Nordseite des Sees, wo das Haus der Gardners lag, sonnenverbrannt und glücklich.
»Schläft sie?«, fragte Martin mit Blick auf Kylie, die zusammengerollt auf der Picknickdecke im Heck lag.
»Sie ist fix und fertig.« May lächelte. »Sie hat heute so viel erlebt, dass sie völlig erledigt ist.«
»Das ist immer so, wenn man an einem See aufwächst. Alles ist ein Abenteuer. Das heißt, mit sechs.«
»Oder mit sechsunddreißig.« May berührte seine Zehe mit ihrem nackten Fuß.
»Nimm dich in Acht!«, grinste Martin. »Führe mich nicht in Versuchung.«
»Schon gut, schon gut«, sagte May und tat so, als sei sie enttäuscht. »Erzähl mir, wie es ist, wenn man sechs ist und Abenteuer erlebt.«
»Hmm, man entdeckt Schildkröten im Schlamm, eine Fuchsfamilie in einem abgestorbenen Baumstumpf, Pantherspuren, die dem Hund von Rays Vater gehören, wie sich später herausstellt, oder einen Fisch, der jedes Mal ein Stück wächst, wenn er einem entwischt ist …«
»Das ist bestimmt das Exemplar, auf das Kylie es abgesehen hat.«
»Ja, sie angelt gerne – solange wir die Beute wieder vom Haken lassen. Sie hat eine Vorliebe für Anglerlatein. Und eine rege Fantasie, wie ihre Mutter. Es hätte dir gefallen, am Lac Vert aufzuwachsen. Du hättest wunderbar hierher gepasst. Wie hast du mit sechs ausgesehen, May? Lass mich überlegen …«
Sie errötete unter Martins forschendem Blick. Sie senkte den Kopf, aber er klemmte ein Ruder unter den Arm, streckte die Hand aus und hob ihr Gesicht.
»Sommersprossen«, sagte er. »Ganz eindeutig Sommersprossen. Und Zöpfe, richtig?«
»Richtig.«
»Lass sehen.« Sie scheitelte ihr Haar in der Mitte und begann, die linke Seite zu flechten. Sie war zur Hälfte fertig, als er sie mit einem Kuss unterbrach. »Ich liebe dich, May. Ich wünschte, ich hätte dich mein Leben lang gekannt, schon mit sechs.«
»Ich auch«, flüsterte sie und fragte sich, was für Geheimnisse er zu der Zeit gehabt haben mochte. Sie küssten sich, voller Sehnsucht, aber in dem Moment regte sich Kylie. Sie schien zu träumen, denn sie warf sich hin und her, schluchzte auf. Martin lächelte bedauernd und ließ May los, damit sie sich um Kylie kümmern konnte.
»Schmerzt der Sonnenbrand, Liebes?«
»Was ist passiert, was ist passiert?«, murmelte Kylie im Halbschlaf.
»Nichts, Kylie, es ist alles gut«, sagte May beschwichtigend und hoffte, dass Kylie langsam aufwachte.
»Doch, etwas Schlimmes!«
»Liebes …«
»Natalie!«, rief Kylie weinend und rieb sich die Augen.
Martin sah sie entgeistert an, sein Lächeln war verschwunden, die Farbe aus seinem Gesicht gewichen.
»Schhhhh. Du träumst, Liebes. Es ist nur ein Traum …« May
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