Was allein das Herz erkennt (German Edition)
kitteten.
»Eine Weile.« Martins Stimme klang gefährlich leise.
»Er nahm sie in seine Obhut, als du in der Klinik warst?«
Martin nickte. Eine Mücke schwirrte um seinen Kopf und er fing sie mit einer Hand. Der Seetaucher schrie abermals, doch als Martin mit der Hand auf die Armlehne schlug, verstummte der ganze See. »Er nahm sie in seine Obhut und brachte sie um.«
Mays spürte, wie das Blut in ihren Ohren rauschte und ihr die Haare zu Berge standen. »Nein, das kann nicht sein«, hörte sie sich sagen.
»Doch. Er ist ein notorischer Spieler. Das weißt du doch, oder? Dass er im Gefängnis sitzt, weil er Wetten gegen seine eigene Mannschaft abgeschlossen und Steuern hinterzogen hat!«
»Er hat Natalie nicht umgebracht«, flüsterte May, weil das undenkbar war, schlimmer als alles, was sie sich vorzustellen vermochte.
Martin zog sein T-Shirt aus.
Der Himmel glühte, als hätte jemand in tiefster Nacht eine Kerze angezündet, die ihr sattes blaues Licht verströmte. Es strahlte von den Bergwänden ab, tauchte die grünen Kiefern in goldenes Licht, überzog die Felsen mit einem hellen Schimmer. Martins Brust war nackt und jeder Muskel zeichnete sich in dem seltsamen Licht klar ab. Die Haare glänzten, und darunter sah May das bizarre Muster der kreuz und quer verlaufenden Narben.
»Spieler haben Schulden«, sagte Martin. »Fast alle, auf die eine oder andere Weise. Sie gewinnen eine Weile, aber die Glückssträhne hält nicht ewig an. Als ich zehn war, bekam mein Vater Besuch von jemandem, dem er Geld schuldete. Er hat mich mit dem Messer bearbeitet. Das da habe ich ihm zu verdanken.«
May strich mit den Fingerspitzen über die Narben, Tränen liefen über ihre Wangen.
»Meine Mutter fand heraus, was passiert war, verbot meinem Vater das Haus und jeden weiteren Kontakt mit mir. Er zog noch am selben Abend aus und hielt sich an sein Versprechen. Wir sahen uns nie wieder, bis ich erwachsen war und als Profi Eishockey spielte.«
»Die Narben sind sehr tief.« May tastete mit den Fingern darüber, spürte, dass sie wie Stricke über Martins breiter Brust verliefen.
»Er behauptete, er habe sich geändert. Das alles gehöre der Vergangenheit an. Er sei älter und klüger geworden, wünsche sich nichts sehnlicher, als Großvater zu sein. Das Einzige, was ihm etwas bedeute, sei seine Familie – Natalie und ich. Wir seien alles, was er noch habe. Er sei ein alter Mann.«
»Als du in der Klinik warst –« May spürte plötzlich, wie kalt die Nacht war, die sich herabsenkte. Das Glühen am Horizont war erloschen und sie hätten überall sein können – in Black Hall oder am Strand – statt an einem von Bergen umgebenen See. Der Himmel war inzwischen pechschwarz, mit gewöhnlichen Sternen gesprenkelt.
»Ich hätte es wissen müssen. Das ist es, was ich nicht vergessen und worüber ich nicht hinwegkommen kann. Ich hatte am eigenen Leib erlebt, dass mein Vater vor Habgier über Leichen ging. Ich wusste, dass er früher Spielschulden gemacht hatte; wie konnte ich mir nur einbilden, das sei anders geworden?«
»Er hatte Spielschulden?«
»Und wie. Ein Vermögen. Er stand so tief in der Kreide, dass er sich keinen anderen Rat wusste, als Geld gegen die Mannschaft zu wetten, die er selber trainierte. Die Summe war hoch genug, um ihm wieder einmal jemanden auf den Hals zu hetzen und –«
May blinzelte und war mit einem Mal froh, dass es stockdunkel war. Sie konnte Martins Narben nicht mehr sehen und auch nicht mehr spüren, als sie ihre Hand fortzog. Sie zitterte, als Martin weitersprach, und hörte am Klang seiner Stimme, dass es ihm nicht anders erging.
»Eishockeystars verdienen viel Geld. Auf die Idee kommt man nicht, wenn man sich dieses Blockhaus anschaut, aber so ist es. Trainer gehören ebenfalls zu den Spitzenverdienern. Mein Vater war ein reicher Mann. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, aber an jenem Tag ging es nur um Geld.«
»An welchem Tag?«
»An dem Tag, als sie wieder einmal kamen, um die Schulden meines Vaters einzutreiben.«
»Und Natalie war bei ihm?«
»Er lebte in einem Appartment direkt am Ontariosee. Eine luxuriöse Gegend, wo auch andere berühmte Leute wohnten. Eine Sehenswürdigkeit, auf die man stets die Touristen hinwies, die eine Tour mit dem Schaufelraddampfer machten. Nat fand es aufregend. Sie spielte oft auf der Terrasse und hörte eine Stimme über Mikrofon sagen: ›Und dort oben lebt Serge Cartier …‹, wenn das Schiff vorbeifuhr.« Er hielt inne, dann fügte
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