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Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Was allein das Herz erkennt (German Edition)

Titel: Was allein das Herz erkennt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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er hinzu, als sei ihm der Gedanke nachträglich gekommen: »Sie war auf der Terrasse, an jenem Tag.«
    May hörte den Seetaucher weit draußen auf dem Wasser, hörte seinen kehligen, unheimlichen Schrei.
    »Der Kerl hat sie an den Beinen gepackt und mit dem Kopf nach unten über die Brüstung gehalten.«
    »Oh nein!«, flüsterte May.
    »Sie muss Todesängste ausgestanden haben. Aber sie ließ sich nichts anmerken. Auch dann nicht, als er sie wieder hochzog und unbeschadet auf dem Boden absetzte. Sie rannte zu meinem Vater. Klammerte sich an ihn. Trotz allem, was sie ihr angetan hatten, machte sie sich Sorgen um ihn, wusste, dass er in großen Schwierigkeiten war.«
    May, die anfangs befürchtet hatte, Natalie sei bei dem Sturz über die Brüstung zu Tode gekommen, fühlte sich unwillkürlich erleichtert. Sie hatte den Atem angehalten, nun holte sie tief Luft.
    »Mein Vater wollte sie schleunigst aus der Gefahrenzone haben. Behauptete, er habe Angst gehabt, der Kerl würde beim nächsten Mal Ernst machen. Er warf sich dazwischen und versetzte ihr einen Stoß; nicht heftig, sagte er. Sagt er immer noch. Sie sei mit dem Kopf gegen die Tischecke geprallt, aber gleich wieder aufgestanden. Ihr sei nichts passiert.«
    »Aber«, May war verwirrt.
    »Sie kam mit mir nach Hause. Blieb die letzten beiden Wochen bei mir. Sie erzählte mir von dem bösen Mann und der Brüstung, aber sie erwähnte mit keiner Silbe, dass ihr Großvater sie gestoßen hatte. Ich rief meinen Vater an, sagte ihm, er sei für mich gestorben, dieses Mal für immer, und von ihm erfuhr ich, dass sich Natalie den Kopf angeschlagen hatte. Ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht, war zu sehr damit beschäftigt, ihn zu hassen, diesen Mistkerl.«
    Martin atmete schwer, als käme er gerade von einem Wettrennen.
    »Ihre Augen waren trübe, aber ich dachte, das käme vom Weinen. Sie weinte immer, wenn der Abschied nahte. Sie sollte am nächsten Tag zu ihrer Mutter zurück, der Flug war bereits gebucht.«
    Martins Stöhnen ließ die Nacht erzittern. Es scheuchte die Vögel auf, ihre Schwingen peitschten die Oberfläche des Sees. May hielt seine Hand, weinte lautlos an seiner Seite.
    »Sie starb in der Nacht.«
    »Oh Martin.«
    »Im Schlaf.«
    »Gott«, flüsterte May.
    »Es fand eine Autopsie statt. Sie hatte einen Schädelbruch, ein Blutgerinnsel hatte sich gebildet. Hirnblutungen, hieß es. Mein Vater rief in der Nacht an, nahm die ganze Schuld auf sich; er weinte und beteuerte immer wieder, das habe er nicht gewollt.«
    »Natürlich hat er das nicht gewollt.«
    »Es war allein meine Schuld.« Martin umklammerte wieder die Armlehnen des Stuhles. »Weil ich dem Scheißkerl überhaupt vertraut habe, und weil ich nicht gleich mit ihr ins Krankenhaus gefahren bin, zum Nachschauen.«
    »Es war nicht deine Schuld.«
    »Das habe ich mir lange einzureden versucht. Ich hasse meinen Vater so sehr, dass ich gerne glauben möchte, dass ihr Tod allein auf sein Konto geht. Manchmal vergesse ich, dass er nicht wegen Mord, sondern wegen seiner unsauberen Geschäfte und der Steuerhinterziehung hinter Gittern sitzt.«
    »Schuldzuweisungen und Schuldgefühle helfen nicht.« May dachte daran, wie lange sie den LKW-Fahrer für den Tod ihrer Eltern verantwortlich gemacht und ihn gehasst hatte, weil er ihr Vater und Mutter genommen hatte.
    »Mag sein, aber sie sind nun einmal da. Jetzt weißt du, warum ich Kylie nicht erzählen konnte, was passiert ist. Ich konnte ihr nicht sagen, wie ich mein eigenes Kind in Gefahr gebracht und danach auch noch versäumt habe, sie ins Krankenhaus zu bringen, wo ihr geholfen worden wäre. Als sie Natalies Namen sagte, habe ich durchgedreht.«
    »Du hast nicht durchgedreht. Du trauerst um sie.«
    Sie hatten sich an den Händen gehalten, doch nun klammerten sie sich aneinander, als würden sie in einer Haut stecken, und sie spürte sein Herz an ihrem hämmern. Er weinte, aber er wollte es sich nicht anmerken lassen. Seine Schultern bebten und sie hielt und tröstete ihn, so gut sie es vermochte.
    Der Wind frischte auf. Blätter raschelten über ihren Köpfen und das Geäst der Kiefern strich über die kahlen Flanken des Berges. Immer mehr Sterne waren aufgegangen und nun breitete sich die Milchstraße über ihnen aus.
    »Kylie würde sich vor mir fürchten, wenn sie wüsste, was mit Natalie geschehen ist.«
    »Kylie und ich sagen uns immer die Wahrheit. So haben wir es von Anfang an gehalten.«
    »Wir werden ihr die Wahrheit sagen, gemeinsam.

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