Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Aber sie wird Angst bekommen. Ich mache mir Sorgen um sie, May. Auch wenn du es nicht glaubst, aber ich mache mir große Sorgen. Ich sehe, was du alles in das blaue Notizbuch schreibst.«
»Das Traumtagebuch.«
»Ja. Ich möchte nicht der Anlass für weitere Albträume sein. Ich weiß, dass ihr Natalies Tod nicht mehr aus dem Kopf geht. Und sie starb auf grauenvolle Weise.«
»Es tut mir so Leid. Danke, dass du an Kylie denkst.«
»Sie ist meine Stieftochter. Du hast gestern gesagt, dass die Vergangenheit Teil unserer Gegenwart ist. Jede Begebenheit in unserem Leben und jeder Mensch.«
»Davon bin ich fest überzeugt«, sagte May. Martin hielt sie in den Armen. Aber trotzdem ertappte sie sich dabei, dass sie an die andere Person in der Geschichte dachte, die noch lebte und ebenfalls Teil ihrer gemeinsamen Gegenwart war, der Mann, von dem Martin nie freiwillig sprach: sein Vater.
10
A ls sich ihre Zeit am Lac Vert dem Ende zuneigte, schien jeder Tag wichtiger zu sein. Der Sommer kam ihnen in diesem Jahr kürzer vor als jemals sonst. Am letzten Morgen fragte Martin, ob Kylie mit ihm zu den Fischgründen hinausrudern wolle, um ein letztes Mal nach der Urgroßvater-Forelle Ausschau zu halten.
»Ja«, erwiderte Kylie mit einem gewissen Zögern, das auf den Tag mit dem schlimmen Traum zurückzuführen war, draußen im Boot, als Martin so laut gebrüllt hatte. Obwohl sie seither Wanderungen, Picknicks und Bootsfahrten unternommen hatten, hatte Kylie sich meistens vergewissert, dass ihre Mutter mit von der Partie war. Aber heute machte es ihr nichts aus, ihn alleine zu begleiten. In letzter Zeit war er wieder genauso nett gewesen wie zu Anfang.
»Dann komm.« Martin nahm Ruder, Angeln, Eimer und die zugespitzten Haken. Kylie grub Würmer aus und schaufelte sie in den alten Kartoffelsack, während Martin das Boot belud. Sie war barfuß und der Schlamm quoll zwischen den Zehen ihrer nackten Füße hervor.
Sie ruderten direkt hinaus und glitten über das ruhige Wasser. Beim stetigen Heben und Senken der Ruder bildeten die kleinen Wellen hinter ihnen ein V. Kylie lehnte sich in dem alten Boot zurück und nahm den Geruch des Sommers in sich auf: das Seewasser, der getrocknete Schlamm am Boden des Bootes und die funkelnden Nadeln der Kiefern. Seetaucher und Schwäne schwammen am Ufer entlang.
Martin schwieg und Kylie auch. Während sie ihn anblickte, fragte sie sich, wieso sich immer so tiefe Falten um Augen und Mund der Erwachsenen eingruben. Unwillkürlich berührte sie ihr eigenes Gesicht, das glatt war. Martin sah es und lächelte. Aber er ruderte stumm weiter.
An der Stelle angekommen, an der sich der Fischgrund befand, befestigte Martin die Köder und sie warfen ihre Angeln aus. Als die Sonne hinter den Bäumen hervorkam, holte Martin zwei Kappen aus dem Eimer. Er setzte sich die eine auf und reichte Kylie die andere.
»Hier, für dich.«
»Für mich?« Sie hielt die Kappe in der Hand. Marineblau, mit einem jadeblauen Emblem, glich sie Martins aufs Haar, nur kleiner. Sie fühlte sich getragen an, das Lederband im Nacken ringelte sich leicht. Während Kylie sie hielt, ging ein Zittern durch ihre Finger und sie wusste, dass sie Natalie gehört hatte.
»Ja, für dich. Das ist eine Baseballkappe.«
»Aber du spielst doch Eishockey.«
»Stimmt, aber ein Eishockey-Helm wäre auf dem Wasser viel zu heiß. Im Sommer tragen wir hier Baseballkappen.«
»War das Natalies?« Kylie blickte ihn an.
»Ja.« Martin kniff die Augen zusammen, als er seine Angel einholte und abermals auswarf.
Kylie dachte an den Tag zurück, als er sie im Boot angeschrien hatte. Kurz danach hatten Mommy und Martin ihr erklärt, warum: Er vermisste Natalie so sehr, dass er manchmal völlig außer sich war, wenn er an sie dachte. Dann hatte Mommy ihr erzählt, wie Natalie gestorben war: dass sie ausgerutscht war und sich den Kopf angeschlagen hatte, als sie ihren Großvater besuchte, dass Martin nicht geahnt hatte, wie schlimm die Verletzung gewesen war, und sie nicht rechtzeitig zum Arzt gebracht hatte, um sie zu retten. Und deshalb mache er sich schreckliche Vorwürfe.
»Warum darf ich sie tragen?«, fragte Kylie nun.
»Damit dir die Sonne nicht in die Augen scheint«, sagte er schließlich.
»Oh.« Kylie nickte, als sie die Kappe aufsetzte. Seine Antwort leuchtete ihr ein. Die Sonne stand zunehmend höher am Himmel und Mommy mochte es nicht, wenn sie einen Sonnenbrand bekam. Martin lächelte, als er sie ansah. Er streckte die Hand aus
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