Was allein das Herz erkennt (German Edition)
und rückte ihr den Schirm zurecht.
» Voilà .«
»Danke, D–« Zum ersten Mal, seit er sie angebrüllt hatte, hätte sie beinahe Daddy zu ihm gesagt. Aber sie biss sich auf die Lippen. »Danke, Martin.«
»Keine Ursache, Kylie.«
Bildete sie sich das ein oder sah Martin enttäuscht aus? Wie dem auch sei, sie angelten wieder miteinander und Martin war nicht mehr wütend. Kylie spürte den Frieden im Boot, der von Martin ausging, vor allem, wenn er die Baseballkappe auf ihrem Kopf anblickte. Es war beinahe so, als könnte er dabei Natalie vor sich sehen.
»Oh!«, rief Kylie plötzlich.
»Was ist?«
Natalie stand am Ostufer des Sees, in einem kühlen weißen Kleid und fächelte sich Luft mit ihren Flügeln zu. Kylie rutschte auf die linke Seite des Bootes hinüber, den Blick unverwandt auf Natalie gerichtet.
»Ich liebe meinen Vater«, sagte Natalie mit zitternder Unterlippe.
»Ich weiß«, flüsterte Kylie.
»Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, erinnere ich mich daran, wie sehr.«
Kylie lauschte und blickte zu ihr hinüber, aber sie konnte nicht mit normaler Stimme sprechen, weil Martin da war und auf der anderen Seite des Bootes angelte. Dennoch ließ sie Natalie keine Sekunde aus den Augen.
»Er hat dir meine Kappe gegeben.«
»Möchtest du sie wiederhaben?«
Natalie senkte den Kopf und begann zu weinen. Ihre Antwort schien nicht Ja zu sein, aber auch nicht Nein.
»Bitte sag es mir.«
»Er hat mir so viele Sachen geschenkt«, sagte Natalie. »Es war einfacher für mich, damals, als ich dachte, dass sie wichtig wären.«
»Sind sie das nicht?«
Natalie schüttelte den Kopf. »Ich versuche es dir klar zu machen … und ich sehe, du lernst dazu. Aber Boote und Spielsachen, ja nicht einmal die Kappe sind besonders wichtig, verglichen mit Liebe.«
Kylie lachte. »Natürlich sind sie wichtig. Ich kann sie berühren und sehen.«
»Manche Dinge kann man nicht mit den Augen sehen.« Natalie begann zu verblassen. »Hilf Daddy, zu verstehen.«
»Was denn?«, fragte Kylie, als Natalie verschwand. Wie konnte sie behaupten, die Kappe sei nicht wichtig? Hatte sie deswegen nicht geweint?
Kylie fragte sich, ob die Kappe wohl auf dem Wasser schwimmen könnte, ans andere Ufer des Sees. Sie nahm sie vom Kopf, tauchte sie ins Wasser. Sie ließ probeweise los und sah, dass sie zur Seite kippte, wie ein kleines Boot, dann füllte sie sich blitzschnell mit Wasser und begann zu sinken.
»Hoppla«, sagte Martin, »du hast deine Kappe verloren.« Er erwischte die Kappe im letzten Moment.
»Es tut mir Leid.«
»Ich habe gar nicht gemerkt, dass es windig geworden ist.« Er trocknete die Kappe ab und setzte sie ihr wieder auf. Er sah sie merkwürdig an, als vermute er etwas.
»Mein Kopf war heiß. Ich wollte ihn nass machen«, sagte Kylie und suchte mit den Augen das Ufer ab.
»Wir gehen ein letztes Mal schwimmen, wenn wir wieder an Land sind.« Martin begann, nach Hause zu rudern. Natalie tauchte plötzlich wie aus dem Nichts wieder auf, stand unter den Kiefern. Kylie dachte daran, was sie über Dinge gesagt hatte, die man nicht mit den Augen sehen kann. In dem Moment warf Natalie ihr eine Kusshand zu und Kylie tat es ihr verwirrt nach.
*
Lac Vert in diesem Sommer zu verlassen bedeutete, nach einem letzten gemeinsamen Abendessen bei den Gardners von Genny und Ray, Charlotte und Mark Abschied zu nehmen. Den Cartiers fiel es schwer zu gehen, und die Gardners ließen sie nur ungern ziehen. Auch wenn Tobin und Tante Enid in ihrer Abwesenheit die Stellung gehalten hatten, wusste May, dass sie an die Arbeit zurück musste.
Martin hatte beschlossen, sie nach Toronto zu begleiten, weil Kylie im Juli dort den nächsten Arzttermin hatte, und dann weiter nach Connecticut zu fahren.
*
Sie ließen sich Zeit während der Fahrt, die am St. Lawrence River entlangführte, übernachteten in kleinen Ortschaften, die an der Strecke lagen. In Toronto zeigte ihnen Martin die Eishockey- und Baseballstadien. Er erzählte ihnen von der Hockey Hall of Fame, in der alle großen Spieler verewigt waren. May versuchte zuzuhören, aber ihre Gedanken waren bei dem kleinen blauen Notizbuch in ihrer Handtasche.
Schließlich erreichten sie die Twigg University, ein riesiges Anwesen mit weitläufigen Grünflächen und efeubewachsenen Backsteingebäuden im Norden der Stadt.
Dr. Ben Whitpens Büro befand sich in der Psychologischen Fakultät, in einem alten Gemäuer mit Bleiglasfenstern. Die Gänge waren dunkel und kühl, die schweren Türen zu
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