Was allein das Herz erkennt (German Edition)
den Hörsälen aus Eiche. Martin blieb stehen und blinzelte, versuchte, im Halbdunkel etwas zu erkennen.
»Du brauchst keine Angst zu haben.« Kylie hielt Martins Hand. Der Wunsch, ihm zu helfen, bewirkte offenbar, dass sie ihr eigenes Unbehagen in dieser Umgebung vergaß. »Ich hatte auch welche, aber nur beim ersten Mal.«
»Ich habe keine Angst, aber hier drinnen ist es stockdunkel.«
»So dunkel auch wieder nicht«, erwiderte Kylie.
»Alles in Ordnung?« May sah, wie er sich die Augen rieb.
»Meine Augen jucken. Ich sehe alles verschwommen. Vielleicht ist etwas hineingeflogen.«
»Möchtest du lieber draußen warten? Wir treffen dich dann später.«
»Keine schlechte Idee. Ich werde das Eisstadion in Augenschein nehmen. Wir treffen uns wieder hier, ja? Sagen wir, in einer Stunde?«
»Besser in zwei.«
Es kam May merkwürdig vor, an einem strahlenden Sommertag einen derart düsteren Ort zu betreten, mit einem Notizbuch, in dem die Albträume ihrer Tochter aufgezeichnet waren. Als Martin hinausging, stiegen May und Kylie eine Treppe höher, in das Dream Research Lab, und öffneten die Tür.
Dr. Whitpen begrüßte sie. In Jeans und lose darüber fallendem Polohemd, glich er eher einem graduierten Studenten als einem Arzt, der an einem hoch dotierten Traumforschungsprojekt arbeitete. Er brachte Kylie sofort in die Spielecke und sagte, sie solle sich ganz wie zu Hause fühlen, er wolle sich noch kurz mit ihrer Mutter unterhalten. Andere Ärzte saßen in abgeteilten winzigen Büros, arbeiteten am Computer oder telefonierten.
May folgte Dr. Whitpen in sein Büro. Sie beobachtete Kylie durch die Glastür und reichte ihm das Notizbuch.
»Wieder Träume von Engeln«, las er laut. »Gut, Sie haben die Ereignisse im Flugzeug aufgeschrieben. Sie hörte Geräusche und roch den Rauch, vor allen anderen. Sprach einen Mann an und bat ihn um Hilfe, wenn es an der Zeit wäre. Sagte, seine Tochter habe es ihr aufgetragen – seine Tochter?«
»Sie ist tot.«
»Aha.« Dr. Whitpen hob die Augenbrauen. Er las weiter. »Stumme Engel in Träumen, die ihren Kopf umschwirrten wie Motten. Interessant. Natalies Puppe, wollte die Puppe zur Hochzeit mitnehmen. Hochzeit?« Er sah hoch.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich geheiratet habe.«
»Oh, ja, das freut mich sehr. Herzlichen Glückwunsch.«
»Ich habe den Mann aus dem Flugzeug geheiratet.«
»Den Mann, den Kylie angesprochen hat?« Dr. Whitpen sah verdutzt aus.
»Ja. Wir haben uns ineinander verliebt. Aber wir sind hier, um über Kylie zu sprechen.« May hatte plötzlich das Bedürfnis, ihre Beziehung zu Martin vor den Fragen des Forschers zu schützen. »Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, mache ich mir ihretwegen nicht mehr so große Sorgen wie früher. Vielleicht war es ein Fehler, sie von einem Arzt zum anderen zu schleppen. Als wäre sie jemand Sonderbares, mit dem irgendetwas nicht stimmt.«
»Sie waren völlig aufgelöst bei unserer ersten Begegnung«, erinnerte er sie.
»Ich weiß.« May erinnerte sich, wie verzweifelt sie gewesen war. »Ich hatte sie zu dieser Gruppe von Ärzten in New York gebracht und jemand hatte das Wort Schizophrenie erwähnt …«
»Kylie ist nicht schizophren«, erwiderte Dr. Whitpen mit Nachdruck. »Aber es gab auch noch andere Dinge, die Ihnen Kopfzerbrechen bereiteten.«
»Wir hatten gerade die … Leiche gefunden.« May erschauerte. »Eigentlich nur noch ein Knochengerüst. Ein Skelett, das von zerlumpten Stofffetzen zusammengehalten wurde und im Wind klapperte, wie eine Vogelscheuche. Ich werde den Anblick nie vergessen. Und Kylie auch nicht, da bin ich mir sicher.«
»Sie träumte zunächst jede Nacht davon und danach begann sie, Engel zu sehen«, sagte Dr. Whitpen und las in seinen Aufzeichnungen. »Ihre zweite Begegnung mit dem Tod, kurz nachdem ihre Urgroßmutter gestorben war.«
»Sie ist sehr sensibel und einfühlsam. Sie kann es nicht ertragen, dass irgendein Lebewesen leidet. Als mein Mann und sie im Sommer einen Fisch fingen, sagte sie, sie habe ihn weinen hören. Wenn sie ein überfahrenes Tier am Straßenrand liegen sieht, ist sie untröstlich und fragt nach den Eltern und Kindern, die es hinterlässt.«
»Das war auch ihre Sorge, was den Erhängten anging – Richard Perry«, sagte Dr. Whitpen, mit einem Blick auf das Patientenblatt. »Die Sorge um die Familie, die er hinterließ.« Er blickte auf. »Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass er Selbstmord begangen hatte, oder? Ein
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