Was allein das Herz erkennt (German Edition)
getroffen worden war. Er beugte sich vor und legte den Kopf schief, um die verletzte Seite zu inspizieren. Er hatte eine leichte Delle, direkt über und hinter dem rechten Ohr.
Die Röntgenaufnahmen, an die ihn die törichte Sprechstundenhilfe erinnern wollte, waren im Sommer gemacht worden.
Während der letzten Saison, in einem Spiel gegen Chicago, hatte ihn ein Puck mit voller Wucht am Kopf getroffen. Die Platzwunde und die Gehirnerschütterung waren offenkundig, und er musste die nächsten beiden Spiele aussetzen. Beim dritten war er wieder dabei gewesen, gegen den Rat des Arztes. Keine Probleme für den Rest der Saison.
Aber dann, an dem Morgen, als er mit Kylie beim Angeln gewesen war, hatten die Kopfschmerzen angefangen. Stechende, hämmernde Kopfschmerzen, so dass er alles doppelt sah. Er hatte es auf die grelle Sonne geschoben, auf die Tatsache, dass er nicht gefrühstückt hatte, auf den Stress – auch wenn er wunderbar war – als frisch gebackener Ehemann. An jenem Abend hatte May über irgendetwas mit ihm sprechen wollen, über Natalie oder seinen Vater, und Martin hatte sie angefahren. Am nächsten Tag hatte er seine Kopfschmerzen für sein unmögliches Benehmen verantwortlich gemacht.
Dann waren sie nach Toronto gefahren. Er hatte vorgehabt, May und Kylie zum Arzt zu begleiten, hinauf in den ersten Stock, um ihnen den Rücken zu stärken. Doch beim Betreten des Gebäudes war plötzlich alles dunkel gewesen. Er hatte nichts mehr gesehen und befürchtet, ohnmächtig zu werden. Dort, in Eingangshalle des altehrwürdigen Gebäudes, hatte er das Gefühl gehabt, sterben zu müssen.
Deshalb hatte er das Naheliegende getan und war ins nächste Krankenhaus gefahren, um sich auf die Schnelle untersuchen zu lassen. Da er sein Leben lang Eishockey gespielt hatte, war er an Notaufnahmen, Röntgengeräte, Ärzte und Krankenschwestern gewöhnt. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, May davon zu erzählen – oder vielleicht doch. Aber sie hätte sich Sorgen gemacht, hätte darauf bestanden mitzukommen und die Angelegenheit damit nur unnötig aufgebauscht.
Merkwürdig, dieser Zufall: Das Krankenhaus in Toronto war dasselbe gewesen, in dem er mit seiner Knieverletzung gelegen hatte, als Natalie bei seinem Vater gewohnt hatte. Déjà vu , hatte er während der Untersuchung immerfort gedacht.
Dieses Mal hatte man eine Schädelfraktur am Haaransatz entdeckt. Keine große Sache, nur eine Verletzung von vielen. Die Ärzte hatten ihn nach Hause geschickt und empfohlen, das Röntgenbild dem Mannschaftsarzt zu geben – dessen dumme Sprechstundenhilfe beschlossen hatte, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, und May die Nachricht an ihn hinterlassen hatte.
Seltsam war, dachte er, als er das Licht ausschaltete, dass seine Kopfschmerzen sich kaum noch bemerkbar machten. Er hatte die Zähne zusammengebissen und der Schmerz war vergangen. So war es immer gewesen, mit allem. Jammern hatte ihm noch nie gut getan. Er hielt nichts davon, andere mit seinen Problemen zu behelligen, hatte sie immer alleine in den Griff bekommen. Die Ehe hatte daran nichts geändert, er wollte May nicht mit jeder Lappalie belasten.
Vergangenheit oder Gegenwart, das war gleich. Seit May die Wahrheit über Natalie und seinen Vater kannte, schien sie gewillt zu sein, alles auf sich beruhen zu lassen. Das war gut so. Je mehr Gras darüber wuchs, desto besser. Die alten Geschichten über seine Familie wieder aufzuwärmen würde niemanden glücklich machen.
*
Im Sommer hatten viele Verlobungen stattgefunden. May hörte sich den ganzen Tag über jede Geschichte geduldig an. Sie machte sich gewissenhaft Notizen. Oft kamen ihr nach den Schilderungen über den Heiratsantrag oder die Verlobung die besten Ideen für die Hochzeit. Eine Frau hatte erzählt, dass sie mit ihrem Freund eine Woche in Italien, in Positano, Urlaub machen wollte. Sie hatten das Gepäck aufgegeben und die Sicherheitskontrolle am Flughafen passiert, als plötzlich der Alarm losgegangen war. Als ihr Freund gebeten wurde, seine Taschen auszuleeren, hatte er sich geweigert. Im Nu wimmelte es von Sicherheitsbeamten und als sie die Handschellen herausholten und die junge Frau in Panik geriet, hatte er sich auf ein Knie herabgelassen und eine kleine Schachtel aus der Tasche gezogen.
Die anderen Passagiere hatten sie umringt. »Er macht ihr einen Heiratsantrag, er macht ihr einen Heiratsantrag«, hatten sie sich zugeraunt. Ihr Freund hatte einen Brillantring aus der
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