Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Montreal begann, stand May mitten im Geschehen neben Genny, verblüfft über die atemberaubende Spannung, die sie empfand. Sie schrien sich die Lungen aus dem Leib, saßen auf einer besonderen Bank direkt am Eis und waren den Spielern so nahe, dass sie ihren Atem hören konnten, wenn sie vorbeifuhren. Kylie war mit Tante Enid zu Hause geblieben, um die Übertragung im Fernsehen zu verfolgen, und als die Kamera herüberschwenkte, um die Reaktion der Ehefrauen in Großaufnahme festzuhalten, erinnerte Genny May daran, zu winken.
Als die Fahne der Eastern Conference Championship aufgezogen wurde und über dem Eisstadion wehte, als Zeichen der spektakulären Leistungen während der letzten Saison, hatten Genny und May vor Stolz Tränen in den Augen. May versuchte, Martins Blick zu erhaschen, aber er blickte hartnäckig auf seine Füße.
»Er weigert sich, sie zur Kenntnis zu nehmen«, erklärte Genny. »Er ist offenbar immer noch enttäuscht, dass sie den Cup nicht gewonnen haben, und er wird erst wieder froh sein, wenn er ein Stanley-Cup-Banner dort oben hängen sieht.«
»Ray scheint ganz zufrieden zu sein«, meinte May, die beobachtete, wie Gennys Mann lächelte und in Hochrufe ausbrach.
»Ray ist anders als Martin.«
May kannte die grundlegenden Begriffe im Eishockey, wie Puck, Schuss, Tor, und sie hatte während der Playoffs in der letzten Saison ein paar dazugelernt. Aber ihr waren viele Begriffe immer noch fremd und Genny erklärte ihr, was man unter Schlagschuss, Strafbank und Penalty, Redline und Blueline, Slot und Hattrick verstand.
»Hattrick?«
»Drei Tore in Folge durch denselben Spieler. Die dein Mann bald erzielen wird, wenn er so weitermacht. Auuuu!« Genny zuckte zusammen, als Martin einen Gegner mit einem Slam direkt in die Bande vor ihnen katapultierte und May zuzwinkerte, als wäre er eine Katze und lege ihr eine Maus zu Füßen.
Als ein Spieler des gegnerischen Teams Martin den Stock in die Seite rammte, schnappte May entrüstet nach Luft. »Wieso geht der Schiedsrichter nicht dazwischen! Oder heißt der nicht so?«
»Schon. Aber im Eishockey ist das komplizierter: Es gibt es einen Schiedsrichter und zwei Linienrichter, einen Spielzeitnehmer, einen Strafzeitnehmer, einen offiziellen Punktrichter und zwei Torrichter, und darüber hinaus die so genannten ›Offiziellen‹, zu denen auch Manager, Coach und Trainer gehören«, erklärte ihr Genny lächelnd. »Aber mach dir keine Sorgen. Martin wird es ihm schon heimzahlen.«
Was er gleich darauf mit einem Bodycheck tat. Er rempelte den Mann mit voller Wucht an, als dieser gerade zum Torschuss ausholte. Der Spieler der Montreal Canadians knallte auf das Eis und legte eine Rutschpartie rückwärts auf seinem Hosenboden hin, wie ein Kind auf einem zugefrorenen Weiher. May riss die Fäuste hoch und jubelte genauso laut wie alle anderen Boston-Fans.
Martin Cartier wuchs an diesem Tag über sich selbst hinaus. Er war ein Komet auf Kufen, schnell wie ein Feuerball. Blockte Schüsse ab, nahm den Gegnern den Puck ab, legte sensationelle Pässe vor und brachte kurze, harte Schlagschüsse aus dem Handgelenk ins Netz, die sämtliche Zuschauer von den Bänken riss. May hatte gewusst, dass sie mit einem Profi verheiratet war, aber bis zum heutigen Abend war ihr nicht klar gewesen, was das bedeutete. Hier, in seinem Metier, war ihr Mann kein gewöhnlicher Sterblicher, sondern ein Zauberer, dessen Schlittschuhe kaum den Boden berührten und der über das Eis zu fliegen schien.
Martin erzielte gleich in der ersten Minute ein Tor, wurde vier Minuten später wegen einer Rauferei auf die Strafbank geschickt, brachte einen Penalty shot ins Ziel – und das alles im ersten Drittel der Spielzeit. Im zweiten Drittel holte er sich eine blutige Nase und wurde wieder wegen eines Fouls auf die Strafbank verbannt. Als Martin vom Eis war, erzielte Montreal in schneller Folge zwei Tore hintereinander. Nach seiner Rückkehr auf das Spielfeld blockte er seinen dreißigsten Schuss im Spiel ab, unmittelbar bevor die Uhr das Ende des zweiten Drittels ankündigte.
Als die Bruins das Eis verließen, war May völlig außer Atem. Ihre Handflächen waren wund, so tief hatte sie vor lauter Aufregung ihre Nägel hineingegraben, und sie war heiser vom Schreien.
Die Zamboni erschien, um das Eis zu glätten. Während laute Musik aus den Lautsprechern hoch über ihren Köpfen ertönte, sah May zu, wie die große eckige Maschine über die zerfurchte Eisfläche glitt, die Rillen schmolz
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