Was allein das Herz erkennt (German Edition)
Cartiers Blitzhochzeit abgeklungen war, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Presse und der Stadt wieder auf die Aussichten der Boston Bruins, beim nächsten Mal den Stanley Cup zu holen. Martin kam jeden Abend mit schmerzenden Knöcheln nach Hause. Er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, vielleicht noch eine Saison oder zwei. May massierte ihm den Rücken und sagte, eine Saison reiche völlig aus.
Die Zeitungen begannen, die Rivalität zwischen Boston und Edmonton, zwischen Martin Cartier und Nils Jorgensen hochzuspielen. Eines Nachmittags wurde Martin beim Training vom Puck am Auge getroffen, er trug ein Veilchen und sechs neue Stiche davon. Der Mannschaftsarzt untersuchte ihn. Er riet Martin, weitere Untersuchungen von einem Augenspezialisten durchführen zu lassen.
Aber Martin ignorierte die Empfehlung. Eishockey war ein raues Spiel, Verletzungen waren gang und gäbe. Seine Sehstärke war nicht mehr gut, das wusste er auch so, und er wollte keine weiteren Hiobsbotschaften hören. Es reichte, wenn er genug sehen konnte, um Schlittschuh zu laufen. Seine Verdrängungsmechanismen funktionierten hervorragend, hatten ihm gute Dienste bei Gehirnerschütterungen, Rissen in der Netzhaut und Knochenbrüchen geleistet. Dennoch strengte ihn das Lesen an und so bat er May am nächsten Morgen, ihm den Artikel über die persönliche Feindschaft zwischen Cartier und Jorgensen vorzulesen, der im Globe erschienen war.
»Du hasst ihn doch nicht wirklich, oder?«, fragte May über den Frühstückstisch hinweg. »Furchtbar, diese Schreiberlinge müssen immer alles aufbauschen.«
Martin trank einen Schluck Orangensaft. »Dieses Mal nicht. Es stimmt.«
»Aber wieso denn?«
»Mal sehen, ich werde versuchen, die Gründe auf einen Nenner zu bringen. Wie wäre es damit: weil wir beide unerbittliche Konkurrenten sind und es beide hassen zu verlieren?« Grinsend kniff er sein purpurfarbenes Auge zu, wobei er aussah wie ein Pirat. »Uuups, da wäre noch ein Grund: Ich habe einmal sein Gesicht mit dem Eishockeyschläger umgemodelt.«
»Martin!« May erschauerte.
Tatsache war, dass sie bisher noch keine Eishockeysaison an Martins Seite miterlebt hatte und sich nicht vorstellen konnte, welche Folgen die Brutalität auf dem Eis hatte, mit der er in einem Spiel nach dem anderen konfrontiert war. Sie blickte auf seine Hände und in sein Gesicht, zählte die Narben, verweilte bei seinem geschwollenen rechten Auge.
»Ich bin eben ein Hai und habe Hackfleisch aus ihm gemacht, aus diesem Würstchen.« Martin strich Apfelgelee auf seinen Toast.
»Ist das eine persönliche Sache zwischen euch beiden?«
» Mais oui.«
»Auch mit den anderen Spielern oder nur mit Jorgensen?«
»Vor allem mit Jorgensen.«
»Du hasst ihn wirklich ?« May wollte es nicht glauben.
Martin wischte sich die Finger an der Serviette ab und nahm ihre Hand. »May, die Eishockeysaison beginnt bald.«
»Ich weiß. Ich habe Angst und weiß nicht, warum. Hass ist ein starker Begriff.«
»Ich hasse ihn, mehr als ich sagen oder erklären kann, aber so ist es nun mal. Ich hasse ihn fast so sehr wie meinen Vater.«
May erschauerte bei seinen Worten. Sie dachte an ihren eigenen Vater, der ohne einen Abschiedskuss oder ein liebevolles Wort von ihr aus dem Haus gegangen war. Ob Martin das Wort Hass auch so leicht über die Lippen käme, wenn sein Vater nicht mehr am Leben wäre, wenn es keine Gelegenheit mehr gäbe, Frieden mit ihm zu schließen?
»Ich wünschte, es wäre anders«, sagte May und betrachtete sein blaues Auge. »Und das kann ich nicht erklären. Ich möchte, dass du gewinnst, deine sämtlichen Spiele, den Stanley Cup, alles. Aber ich wünschte, das wäre nicht mit so viel Gewalt verbunden.«
»Das gehört aber mit zu meinem Beruf. Zum Eishockeyspielen.«
»Und dabei hat die Saison noch nicht einmal begonnen. Würdest du mich für die größte Närrin aller Zeiten halten, wenn ich dich darum bitte, vorsichtig zu sein?«
Martin schob Toast und Kaffee beiseite, zog May auf seinen Schoß und begann, sie im goldenen Licht der Herbstsonne zu küssen. Er ließ oft alles stehen und liegen, um sie zu küssen und in die Arme zu nehmen, aber heute tat er es mit einer größeren Inständigkeit als sonst. Er strich ihr über die Haare, ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten. »Darum hat mich noch nie jemand gebeten. Kein einziges Mal in meinem ganzen Leben«, flüsterte er ihr ins Ohr.
*
Als die Saison mit dem Eröffnungsspiel gegen
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