Was allein das Herz erkennt (German Edition)
vor Angst.
»Er kann dir nichts anhaben, Martin. Er kann dich nicht mehr verletzen.«
»Ich möchte dich beschützen, May. Dich und Kylie. Verstehst du das nicht?«
»Ich brauche keinen Schutz vor ihm. Der Kontakt zu ihm ist wichtig für mich! Ich möchte nicht, dass unsere Familie derart zerrissen ist. Ich möchte nicht, dass du in deinem Innersten so zerrissen bist. Willst du nicht wenigstens darüber nachdenken –«
»Herrgott noch mal!«, explodierte Martin. »Ich will ihn nicht in unserem Leben haben. Und damit basta! Ob es dir gefällt oder nicht, ich werde dich vor ihm beschützen, weil ich glaube, dass es nötig ist. Mach dir um mich keine Sorgen.« Er blickte sie wütend an, schüttelte den Kopf. Dann warf er einen Blick auf seine Uhr. »Ich muss morgen in aller Frühe nach St. Louis. Ich gehe nach oben, ich brauche Schlaf. Kommst du?«
May stand am Fuß der Treppe, atmete schwer. Wovon redete Martin, sie schützen? Das war der Gipfel, eine lahme Ausrede, um sich seinen eigenen Gefühlen nicht stellen zu müssen. Wenn er sich so von seinem Vater entfremden konnte, wer sagte ihr, dass er sich eines Tages nicht auch gegen sie wenden würde? Wenn Kylie ihn enttäuschte, wäre er im Stande, ihr dann die kalte Schulter zu zeigen? Seine Wut war maßlos und zerstörerisch. May war aufgewühlt, ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, getrieben von einer Angst, die ihr tief in den Knochen saß.
» Er gehört zu deiner Familie, genau wie Kylie und ich! «
Martin atmete aus und ging kopfschüttelnd die Treppe hinauf. Sein Gang war schwer.
»Ja, lauf nur wieder weg«, rief sie ihm nach. Draußen wehte der Schnee über die gepflasterten Bürgersteige und schmalen Kopfsteingassen, heftete sich an die Schindeldächer, wirbelte um die rauchenden Schornsteine von Beacon Hill.
Sie wollte, dass Martin sich umdrehte und mit ihr redete, aber er tat es nicht. Stattdessen hörte sie, wie er in das unbenutzte Gästezimmer ging.
Wieder tat May etwas, was sie sich in den letzten zwanzig Jahren geschworen hatte, nie zu tun: unversöhnt zu Bett gehen. In der kurzen Zeit ihrer Ehe war sie diesem Grundsatz bereits mehr als einmal untreu geworden. Sie hatte ein Engegefühl in der Brust, als würde sie jeden Moment explodieren, und Tränen strömten über ihr Gesicht, als sie im Vestibül stand.
Sie hatte das Bedürfnis, mit Tobin zu sprechen. Sie nahm den Hörer und wählte die Nummer ihrer Freundin. Doch als sie Tobins Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, legte sie wortlos auf. Stattdessen wählte sie eine Nummer in Kanada, die sie lange nicht mehr angerufen hatte. Sie hörte Ben Whitpens Stimme auf dem Anrufbeantworter.
Sie legte noch vor dem Piepton auf.
*
Bevor der Morgen dämmerte, ging Martin den Flur entlang zu seinem und Mays Schlafzimmer. Er musste in wenigen Stunden los, war völlig übermüdet und erschöpft. Er hatte sich mit May versöhnen wollen, konnte aber nicht über seinen Schatten springen. Die Wut hatte ihn die ganze Nacht wach gehalten. Zuerst war er auf May wütend gewesen, weil sie sich weigerte, etwas auf sich beruhen zu lassen, was sie nie verstehen würde. Doch schon bald hatte er seine Wut an die richtige Adresse gerichtet, gegen seinen Vater, der ihn in seiner Kindheit verlassen hatte und nur in sein Leben zurückgekehrt war, um das Leben seiner Tochter zu zerstören.
May verstand das nicht.
Als er gesagt hatte, er müsse sie schützen, war es ihm ernst damit gewesen. Er hatte gelobt, sie zu lieben, zu ehren und zu behüten, und nach seiner Auffassung bedeutete das, sie von seinem Vater fern zu halten – ob er nun im Gefängnis war oder in Freiheit. Sie war zart und zerbrechlich, so mitfühlend und idealistisch. Sie glaubte tatsächlich, es bestünde eine Parallele zwischen einem zwölfjährigen Mädchen, das sich geweigert hatte, seinem Vater einen Abschiedskuss zu geben, und einem kampferprobten NHL–Veteranen wie ihm, der seinen Vater bis aufs Blut hasste.
Wenn Serge starb, würde er ihm keine Träne nachweinen. Ganz im Gegenteil, er wäre erleichtert, endlich von dieser Last befreit zu sein. Hass und Schuldgefühle waren eine schwere Bürde, die er jeden Tag mit sich herumschleppte. Martin hatte an die Decke des Gästezimmers gestarrt und sich gewünscht, dass May die Situation so akzeptierte, wie sie war. Er verlangte nicht, dass sie darüber glücklich war; es reichte, wenn sie ihn nicht mehr damit bedrängte.
Da ihn der Gedanke an sie nicht mehr losließ, hatte er
Weitere Kostenlose Bücher