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Was am Ende bleibt

Was am Ende bleibt

Titel: Was am Ende bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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hätte ich eine Wahl?» brummte er und griff danach.
    Obwohl sie sich auf die Bühne konzentrierte, war der erste Akt für Sophie irgendwie verdorben. Jemand hatte, offensichtlich entmutigt, seinen Kopfhörer fallenlassen und war gegangen, während die dünne, ausdruckslose Stimme der Dolmetscherin weiter schrill in der Luft herumpickte. Die Platzanweiser fanden den Kopfhörer erst, als die Hälfte des Stücks vorbei war. In der Pause verschwand Otto, der müde aussah, um eine Zigarre zu rauchen. Sophie blieb auf ihrem Sitz, merkte, daß ihr das Programm vom Schoß herunterrutschte, war aber merkwürdig träge, als hätte die Unterbrechung der Vorstellung sie mit nichts zu denken, nichts zu tun zurückgelassen. Doch als Otto die Stufen zu ihrer Reihe herunterkam, saß sie aufrecht da, hielt den glänzenden Rand des Programms umklammert und dachte so fest an Francis Early, daß sie bis zum vorletzten Augenblick nichts mehr von dem Stück mitbekam.
    Ein paar Wochen später arrangierte Sophie ein Treffen mit Otto und Early in der Morgan Library, um sich dort eine Ausstellung mit Pflanzen- und Blumenzeichnungen anzusehen. Im letzten Moment rief Otto zu Hause an und teilte ihr mit, daß er es nicht schaffe.
    Lange Zeit, nachdem Francis nach Locust Valley zurückgekehrt war, seinen Munch-Holzschnitt unter den Arm geklemmt und in einer Hand eine Schachtel voller Bücher an einem Wäscheseil tragend, fragte sich Sophie, was geschehen wäre, wenn Otto sie nicht zusammenallein gelassen hätte. Die Antwort variierte mit ihrer Stimmung. Aber sie konnte sich nicht belügen, wenn es darum ging, sich einzugestehen, daß es unterschiedliche Impulse waren, die sie beide auf Francis’ Studiocouch landen ließen. Für ihn mochte sie vielleicht eine von mehreren gewesen sein. Aber für sie konnte es nur er selbst gewesen sein.
    Sie war fünfunddreißig, zu alt für eine Romanze, sagte sie sich, als sie an der Kreuzung Neununddreißigste Straße und Madison Avenue ein Taxi nahmen. Er nannte seine Adresse. Sie blickten ziemlich starr vor sich hin. Sie las die Zulassungsnummer des Taxifahrers und prägte sich seinen Namen ein: Carl Schunk. Sie sagten nichts. Einmal ergriff Francis ihre behandschuhte Hand, und ein Beben durchzuckte sie, und ihr Mund wurde trocken.
    Sie hatte damals eine qualvolle Vorahnung, daß sie ihn lange Zeit vermissen werde. Aber einen Augenblick später hatte sie es vergessen; die Intensität ihres Gefühls für ihn löschte alles aus außer sich selbst. Wie aus einem anderen Leben erinnerte sie sich, wie er gesagt hatte, daß seine Frau «die Namen aller Dinge» kannte. Hatte seine Stimme vorwurfsvoll geklungen? Sie hatte nicht sorgfältig genug hingehört, und jetzt hätte es ihr helfen können. Aber was war, wenn er tatsächlich vorwurfsvoll gewesen wäre? Was, wenn sein Tonfall eine unabänderliche Bindung verraten hätte? Was kümmerten sie Jean, das Haus in Locust Valley, die drei Kinder, die Geschichte, Otto, ihre eigene Vergangenheit, das, was geschehen würde?
    Sie hatten an einer Glasvitrine hinuntergesehen, wobei er ein wenig pedantisch über Klischierverfahren gesprochen, sie angeschaut und angelächelt hatte. Dann bemerkte er, daß ihr benommener Blick starr auf ihn gerichtet war. Sie sah, wie sein Blut aufstieg, seinen Hals undsein Gesicht überflutete. Er nahm ihr Handgelenk in seine Hand und sagte: «Oh!»
    Was sie dann verspürte, war zweifellos Entzücken. Er hatte ganz plötzlich die Heftigkeit des Gefühls erkannt, das von ihr Besitz ergriffen hatte, und ihre Dankbarkeit für diese Erkenntnis verdeckte eine Zeitlang die Tatsache, daß Erkenntnis das einzige war, was er mitbrachte. Ihr Handgelenk hatte sich in seiner Hand gedreht, ihre Finger hatten nach oben gegriffen und seine Manschette erhascht, dann seine Haut berührt. Als sie, Jahre später, versuchte, sich den genauen Klang seiner Stimme ins Gedächtnis zu rufen, und sich mit einer gewissen schmerzlichen Freude daran erinnerte, daß sie es gewesen war, die diese erregte Röte, dieses spontane
«Oh!»
ausgelöst hatte, packte sie die Verzweiflung. Die Stimme wollte nicht wiederkehren; sie konnte sie nicht hören.
    Kurz nach seinem Vortrag am Glaskasten lag Sophie neben ihm auf seiner Couch, den Kopf halb auf der Kante, und betrachtete dösig ihre auf einem Rohrstuhl aufgetürmten Kleider. Sie hob den Kopf ein paar Zentimeter hoch und konnte sein jetzt so bleiches, so geheimnisvolles Gesicht sehen.
    Seit jenem Abend im Theater hatte sie

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