Was am Ende bleibt
häufiger. Er rief Sophie ein oder zwei Stunden, bevor sie fertig war, um das Haus zu verlassen und ihn zu treffen, an und sagte, es sei etwas dazwischengekommen. Er könne sie an diesem Tag nicht sehen. Vielleicht nächste Woche.
Als sie zum letzten Mal von seiner Couch aufstand, glaubte sie einen einzigen erstaunlichen Moment lang, daß sie mit Blut bedeckt sei, und daß das Blut die Umrisse seines Körpers auf ihrem nachzeichnete.
Wie hätte ihr Leben ausgesehen, wenn sie zusammengeblieben wären? Wenn sie jene «Beziehung» gewesen wäre, von der er sprach? Es spielte keine Rolle. Daß sie einander überdrüssig geworden, den ausgetretenen Pfaden der sexuellen Langeweile und Gewohnheit entlanggetrottetwären, spielte keine Rolle. Sie hatte ihn in einem späten Augenblick ihres Lebens ausgewählt, dann, wenn man fast immer nur hypothetisch eine Wahl hat. Es war eine Wahl jenseits der Zeit.
«Er ist nach Locust Valley zurückgegangen», sagte eines Abends Otto.
«Wer?» fragte sie dumm und gequält.
«Francis ist zurückgegangen. Dieses Mal wird er bleiben, glaube ich.» Und dann sagte er: «Er hat was von einem Betrüger!»
«Ich dachte, du magst ihn.»
«Tu ich doch. Er ist ein sehr anziehender Typ. Aber ich finde, er ist ein Betrüger. Er kann nicht anders.»
Hatte sie Francis am Ende erstickt? War er nach Locust Valley zurückgetrottet, weil abgestandene Luft immer noch besser war als gar keine? Aber was wußte sie über die Luft in Locust Valley? Und war Liebe Ersticken? Trotzdem konnte sie nicht ausstreichen, was sie jetzt wußte. Es war Verpflichtung, nicht einmal eine Wahl, nur Verpflichtung, und an diesem Fels zerschellte alles, Entschlüsse und Wünsche, Worte und Vermutungen. Kein Kampf, den sie sich vorstellen konnte, hätte ihn von dieser Verpflichtung losreißen können. Es war egal, wie seine Frau war. Es hätte nicht einmal dann eine Rolle gespielt, dachte sie, wenn er sie, Sophie, geliebt hätte.
«Worüber denkst du nach?» fragte Otto. Für ihn war das eine ungewöhnliche Frage. Sophie errötete. «Über die Ehe», sagte sie. Er lächelte, ein schlichtes, leicht entrücktes Lächeln.
Daß sie einander in derselben Weise gegenüber sitzen würden, wie so viele Jahre, und daß die übliche Intimität zwischen ihnen eine so schmerzhafte Verletzung erlitten haben konnte, ohne daß es dafür Beweise gab, quälte Sophie. Daß sie in all diesen Monaten so leidenschaftlichein von Otto getrenntes Leben gelebt hatte, ohne daß er irgend etwas bemerkt hatte, bedeutete, daß ihre Ehe lange vor ihrer Begegnung mit Francis am Ende gewesen war. Entweder das, oder schlimmer noch, daß es, sobald sie Regeln und Grenzen überschritten hatte, überhaupt keine mehr gab. Konstruktionen hatten kein wirkliches Leben. Im Panzer des Alltagslebens und seinen flüchtigen Kompromissen vor sich hin zu funktionieren war Anarchie.
Sie wußte, wo sie gewesen war, dachte sie. Wo aber war Otto gewesen? Was hatte er gedacht? Wußte er
irgend etwas
? Sie sah ihn lange über den Tisch hinweg an. Er schien sich der Tatsache, daß sie ihn beobachtete, nicht bewußt zu sein. Er aß einen Teller von dem Apfelmus, das sie am Nachmittag zubereitet hatte. Der Löffel klirrte leise. Es roch nach dem zitronenähnlichen Aroma von Äpfeln. Otto rollte mit der linken Hand die Ecke seiner zerknitterten Serviette auf. Als er zu ihr hinüberblickte, spiegelten seine Augen nichts von dem wider, was er sah. Seine Stirn war leicht gerunzelt, seine Schulter gekrümmt.
Er fing an, über den Krieg zu reden – der Sohn eines Mandanten hatte ihn angerufen, um sich zu erkundigen, welche Rechte er habe, wenn er sich zum Kriegsdienstverweigerer erklärte. Otto lehnte ab, mit ihm zu reden, als der Junge sagte, er würde gern kommen und mit ihm «rappen».
«Aber du weißt, was ‹Rappen› reden bedeutet, oder?» fragte sie.
«Rein zufällig. Was wäre, wenn ich in einer Fremdsprache mit ihm geredet und blödsinnigerweise behauptet hätte, daß es
sein
Problem sei, mich zu verstehen?»
«Aber er brauchte Hilfe! Was macht es aus,
wie
er darum bat?»
«Ich habe ihm gesagt, er solle Klartext mit mir reden. Er sagte: ‹Wow.› Dieses Gelatinewort! Wow, wow, wow … wie die Hunde den Mond anbellen. Dann sagte er, er würde mich verstehen, aber nach Lust und Laune handeln und reden, wie ihm der Schnabel gewachsen sei, und ich fragte ihn, wo zum Geier geschrieben stehe, daß irgend jemand nach Lust und Laune handeln solle?»
«Ach, Otto!»
«Ach,
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