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Was am Ende bleibt

Was am Ende bleibt

Titel: Was am Ende bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula Fox
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halt den Mund!» rief er, stieß sich vom Tisch ab und ging aus dem Eßzimmer. Nur einen Augenblick später mußte sie ihr Gedächtnis anstrengen, um sich seinen Gesichtsausdruck zu vergegenwärtigen, während er dort gesessen hatte. Wütend hatte er sie angeschrien und das Zimmer verlassen. Aber der Ausdruck, den sie auf seinem Gesicht gesehen hatte, war weniger von Zorn als von Verblüffung geprägt gewesen; der Ausdruck von jemandem, der keinen Grund für seinen Kummer finden kann.
    Sophie sah Francis erst sechs Monate später wieder, als er sie eines Nachmittags unerwartet anrief. Sie wollten sich auf einen Drink treffen. Er stand an der Theke, las in einem Buch und hatte eine Brille auf. «Hallo», sagte sie. Sie streckte die Hand aus, um seinen Arm zu berühren, und zog sie wieder zurück. «Sophie», sagte er.
    Sie saßen an einem kleinen runden Tisch, die Knie aneinander reibend, bis er seinen Stuhl wegdrehte. Sie sprachen über das Buch, das er gerade las, ein Bericht über Sir Leonard Woolleys Ausgrabungen im türkischen Hatay in der Nähe von Antiochia. Dem gelte neuerdings sein Interesse, sagte er, vorklassische Archäologie. Und wie gehe es ihr? Und wofür interessiere sie sich momentan? Sie sehe gut aus, sagte er, schlanker, und sie lächelte, ja, ja, sie sei schlanker denn je. Sie stellte fest, daß er jetzt eine Brille trage. Zum Lesen, sagte er. Die Schweigepausen zwischen ihnen waren eine Art Schlaf; ihre Augenneigten dazu, sich zu schließen, bis sie seine Stimme hörte. Er war ein bißchen gewöhnlicher geworden, dachte sie, aber sie fragte ihn nur, ob er zugenommen habe.
    Vielleicht würde er diesen schönen, offenen Ausdruck auf seinem schlichten Gesicht niemals ganz verlieren, diese Reinheit des Ausdrucks. Es war nur eine rudimentäre Anmut, sagte sie sich, die die Anpassung überlebt hatte und von ihr verdorben worden war.
    Sie sagte ihm, daß es ihr nicht allzu gut gegangen sei. Sie sagte nicht, daß sie einen unersetzlichen Verlust erlitten hatte. Statt dessen begann sie, etwas zögernd, ihre Beschwerden aufzuzählen, Müdigkeit, Blutarmut – aber sie bemerkte einen Anflug von Ironie, während er ihr zuhörte, und ließ sich davon zügeln. Sie hätte nicht sagen können, woraus er bestand – aus dem vagen Lächeln, seinen zusammengekniffenen Augen, der leichten Haltungsänderung. Er setzte sie in ein Taxi. Sie blickte durch die Rückscheibe des Taxis. Er sah ihr nicht nach, sondern starrte in das Schaufenster eines Geschäfts.

7
    Otto stand am Fenster. Der Himmel war aschgrau. Auch wenn sie sein Gesicht nicht sehen konnte, bemerkte Sophie, daß seine Aufmerksamkeit sich auf etwas auf der Straße konzentrierte. In einer Hand hielt er seinen Schlafanzug. Nackt, neben der hervorstehenden Kante einer Kommode, sah er verletzlich aus, perspektivisch verkürzt und flehend. Als sie sich aus dem warmen Bett erhob, bemerkte sie auf seinem Gesicht einen Ausdruck finsteren Widerwillens.
    «Wieviel Uhr ist es?» fragte sie.
    «Ich weiß nicht … so gegen sieben vielleicht», erwiderte er, ohne sie anzusehen.
    Sie folgte der Richtung seines Blicks. Auf dem Gehsteig gegenüber taumelte ein Neger lautlos zwischen Treppe und Bordsteinkante hin und her. Mit der einen Hand umklammerte er den aufgebauschten Stoff seiner Hose. In der anderen hielt er ein grünes Plastikflugzeug. Über seinen wild schwankenden Beinen kam seinem nackten Hinterteil eine gewisse Schwerkraft zu. Plötzlich schleuderte ihn sein Seitwärtsgang gegen den Pfosten eines schwarzbemalten Geländers. Er stürzte, bei einer wuchtigen Kniebeuge krachten seine Knie gegeneinander, sein Hut fiel herunter, sein nackter Hintern landete auf seinen Fersen. Er warf eine Hand in die Luft, die andere packte das Geländer, das grüne Flugzeug prallte dagegen. Dann erbrach er sich.
    Ein schwarzes Auto knatterte vorbei. Sie sahen den Neger, seinen nach hinten gefallenen Kopf, seine geschlossenenAugen. Sein Hut kam erst in dieser Sekunde im Rinnstein zum Stillstand. Mit irrwitzigem Schlingern begann der Mann sich wieder vorwärtszubewegen.
    «Schau nicht hin …», bat Sophie und zog Otto am Arm.
    «Pst …»
    «Komm hier weg. Komm ins Bett.»
    «Warte!»
    «Du solltest nicht hinsehen. Das ist nicht richtig von dir …»
    «Er ist hineingefallen.»
    Irgendwo hinter ihrem Haus jaulte ein Hund, dann folgte eine Reihe qualvoller Aufschreie, die durch die immer noch dicke graue Luft schlüpften und weiterglitten. Sophie legte die Hand auf Ottos Taille. Er

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