Was am Ende bleibt
Sie verließen die Rezeption rasch, beide in dem unangenehmen Bewußtsein der besonderen klaustrophobischen Wärme, welche das natürliche Klima von Krankheit zu bilden scheint.
Die Nacht war rauchig und feucht; sie gingen durch einen Dunst, der wie Schweiß auf einer unsichtbaren Oberfläche war. An der Tür zur Notaufnahme stand ein Polizist auf einem Bein, den anderen Fuß gegen die Ziegelmauer gestemmt, mit ausdruckslosem Gesicht. Sie drückten die gummigeränderten Türflügel auf und fanden sich in einem langen Korridor wieder, an dessen Ende sich ein erhöhter Tresen, ähnlich einem Kassierertisch in einem Restaurant, befand. Dahinter saß ein Mann, der damit beschäftigt war, wichtigtuerisch einige Zettel auf einem Klemmbrett zu studieren. Gleich hinter seinem Rücken war der Eingang zu einem Warteraum. Obwohl er nicht aufblickte, als sie näherkamen, war klar, daß er sie bemerkt hatte. Sein Kopf begann eine kleine, widerwillige Seitwärtsbewegung, bis er sie schließlich mit einem resignierten Seufzer direkt ansah. Er hatte einen mit Bleistift nachgezogenen Schnurrbart und einen ekelhaftschütteren Haaransatz, an einer Stelle kahl, dichte Haarbüschel an einer anderen.
«Ja?» sagte er. «Name?»
Bevor Sophie oder Otto antworten konnten, läutete das Telefon auf dem Tisch. Der Mann nahm den Hörer ab und begann eine lange, phlegmatische Unterhaltung Gott weiß mit wem – unterbrochen von häufigen Lachanfällen, bei denen seine Oberlippe verschwand und die schwarze Linie seiner Schnurrbarthaare sich dicht über seine kleinen Zähne schob. Die Bentwoods standen da, das Kinn auf der Höhe des Tischs, und als Sophie sich einmal umwandte, um Otto einen hilflosen Blick zuzuwerfen, fragte sie sich, ob auch sie so verkürzt aussah.
Endlich legte er den Hörer auf. «Name!» verlangte er böse, als hätten sie schon vor Stunden antworten sollen. Otto nannte ihren Namen, Adresse und Telefonnummer in einem Tonfall aristokratischer Frostigkeit, doch als der Mann fragte, ob sie eine Krankenversicherung hätten, schlug Otto so brutal gegen seine Taschen, als würde er einen Raubüberfall auf sich selbst verüben. Schließlich zog er eine kleine Karte mit ihren verschlüsselten Daten hervor.
«Also», sagte der Mann und blickte von dem Formular auf, in das er die Personalien der Bentwoods eingetragen hatte. «Was fehlt Ihnen?»
«Eine Katze hat mich gebissen», erwiderte Sophie.
«Aha!» bellte der Mann. «Und wohin hat diese Katze Sie gebissen?»
«In die Hand.»
«Welche Hand?» fragte er mit ostentativer Geduld.
«Die linke Hand.»
«Wann?»
«Freitag.»
«Freitag! Sie wollen sagen, sie hat Sie am Freitag gebissen?»
«Ja.»
«Sie hätten nicht so lange warten sollen. Gehen Sie und setzen Sie sich ins Wartezimmer. Sie werden aufgerufen.» Er nahm den Hörer wieder auf, und Otto und Sophie trotteten schlapp in den Warteraum.
Er war wie eine Bushaltestelle, ein verlassenes Gelände, die Gänge in den Waggons alter Züge, U-Bahnsteige, Polizeistationen. Er vereinigte in sich die Flüchtigkeit, die chaotische Atmosphäre einer öffentlichen Endstation mit der unmittelbar empfundenen Angst auf dem Weg in die Katastrophe.
Der Raum war ein totes Loch, das nach Kunstleder und Desinfektionsmitteln roch; beide Gerüche schienen von dem kaputten, zerkratzten Kunststoff der Sitze auszugehen, die drei Wände säumten. Es roch nach der Tabakasche, von der die beiden metallenen Standaschenbecher überquollen. Am Chromrand des einen glomm ein Zigarettenstummel, feucht wie ein gekautes Stück Rindfleisch. Es roch nach Erdnußschalen und den eingewachsten Bonbonpapieren, mit denen der Boden übersät war; es roch nach alten Zeitungen, trocken, tintig, erstickend und leise an ein Urinal erinnernd, es roch nach dem Schweiß von Achselhöhlen, Leisten, Rücken und Gesichtern, der ausgetreten war und in der leblosen Luft trocknete, es roch nach Kleidern – Reinigungsflüssigkeiten, die sich im Stoff eingenistet hatten und in der warmen, süßlichen Luft schrecklich aufblühten und wie Dornen in die Nase stachen – all die Absonderungen menschlichen Fleisches, ein Bouquet animalischen Seins, das herausfloß und trocknete, aber einen eigenartigen und unauslöschlichen Geruch von Verzweiflung in dem Raum hinterließ – so, als würde Chemie in Geist umgewandelt, eine Art Himmelfahrt.
An der vierten Wand stand ein langer, wackliger Tisch, auf dem ein paar zerfetzte Zeitschriften herumlagen. Die Seiten eines Heftes
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