Was am Ende bleibt
heimgesucht wurde – einem Winter, in dem die Bewohner jener Haushalte weniger Individuen zu sein schienen als ein kollektiver Algorithmus für die Umwandlung von medialem Hurrapatriotismus in eine neunundachtzigprozentige Zustimmungsrate –, drängte sich mir der Gedanke auf, dass Otto Bentwood, bräche er heute zusammen, den Bildschirm seines Schlafzimmerfernsehers eintreten würde. Das aber wäre an der Sache vorbeigegangen. Otto Bentwood, gäbe es ihn in den Neunzigern überhaupt, würde nicht zusammenbrechen, weil die Welt ihn gar nicht mehr berühren würde. Als ein unverhohlen elitärer Mensch, als Inkarnation des gedruckten Wortes und echter Einzelgänger gehört er einer Spezies an, die so gefährdet ist, dass sie im Zeitalter medialer Demokratie praktisch nicht zählt. Jahrhundertelang hat Tinte in Form gedruckter Romane unverwechselbare Individuen in bedeutungsvolle Erzählzusammenhänge eingebunden. Was aber Sophie und Otto in der prophetischen schwarzen Sauerei an ihrer Schlafzimmerwand sahen, war das Zerfließen allein schon der Ahnung einer literarischen Figur. Kein Wunder also, dass diebeiden verzweifelt waren. Die sechziger Jahre waren noch nicht zu Ende, und sie hatten keine Ahnung, was sie ereilt hatte.
Es war eine Belagerung im Gange – schon seit langer Zeit, aber die Belagerten selbst waren die Letzten, die sie ernst nahmen.
Aus
Was am Ende bleibt
Als ich 1981 vom College abging, hatte ich vom Tod des Gesellschaftsromans noch nichts gehört. Ich wusste nicht, dass Philip Roth die Autopsie schon lange vorher durchgeführt hatte, indem er die «amerikanische Wirklichkeit» als etwas beschrieb, was «abstumpft … krank macht … erbost und letztlich … sogar die eigene karge Einbildungskraft in Schwierigkeiten bringt. Die Realität übertrifft unablässig unsere künstlerischen Talente …» Ich liebte die Literatur und eine Frau, zu der ich mich teilweise deshalb hingezogen fühlte, weil sie eine hervorragende Leserin war. Ich hatte jede Menge Vorbilder für die Art von kompromisslosem Roman, den ich schreiben wollte. Ich hatte sogar ein Vorbild für einen kompromisslosen Roman, der ein großes Publikum erreicht hatte:
Catch 22
. Joseph Heller hatte einen Weg gefunden, die Realität dadurch zu übertreffen, dass er den Widersinn der modernen Kriegsführung Metapher für die umfassende Denaturierung der amerikanischen Wirklichkeit sein ließ. Sein Buch war so tief ins nationale Bewusstsein eingedrungen, dass mein
Webster’s Ninth Collegiate Dictionary
nicht weniger als fünf Bedeutungsnuancen für den Titel nannte. Dass seit
Catch 22
kein anspruchsvoller Roman die Kultur auch nur annähernd so stark beeinflusst hatte, so, wie auch kein Thema seit dem Vietnamkrieg so viele entfremdete junge Amerikaner hatte elektrisieren können, wurde leicht übersehen. Am College hatte mir der Marxismus denKopf verdreht, und ich glaubte, dass der «Monopoly-Kapitalismus» (wie wir ihn nannten) so sehr von «Negativfaktoren» (wie wir sie nannten) bestimmt war, dass ein Schriftsteller die Amerikaner mit der Nase darauf stoßen konnte, sofern er seine subversiven Bomben in eine hinreichend verführerische Romanhandlung packte.
Ich begann mit meinem ersten Buch als Zweiundzwanzigjähriger, der davon träumte, die Welt zu verändern. Ich beendete es, als ich sechs Jahre älter war. Die eine winzige welthistorische Hoffnung, an die ich mich noch klammerte, war die auf einen Auftritt bei KMOX Radio, der «Stimme von St. Louis», deren lange, tiefschürfende Autoreninterviews ich immer bei meiner Mutter in der Küche gehört hatte. Mein Roman
Die 27ste Stadt
handelte von der Unschuld einer Stadt im Mittleren Westen – handelte von St. Louis und den hochfliegenden Ambitionen der Kommune in einer Zeit der Apathie und des Niedergangs –, und ich freute mich auf eine Dreiviertelstunde mit einem der Moderatoren der Nachmittagstalkrunden, der, so dachte ich, die Themen aus mir herauslocken würde, die ich im Buch nur angedeutet hatte. Den wütenden Anrufern, die wissen wollen würden, warum ich St. Louis hasste, wollte ich mit der tapferen Stimme von jemandem, der seine Naivität verloren hat, erklären, dass das, was für sie wie Hass aussehe, in Wahrheit trotzige Liebe sei. Unter den Zuhörern wäre auch meine Familie: meine Mutter, die das Romanschreiben für eine gesellschaftlich verantwortungslose Tätigkeit hielt, und mein Vater, der hoffte, er werde eines Tages das
Time
-Magazin aufschlagen und mich
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