Was am See geschah
nagelte einen auf ein Telefonbuch, eine Straße, eine Stadt, ein Land fest. Und wenn der Name gewöhnlich war, dann konnte das natürlich ihren Phantasien über die Leute, denen das Haus über dem See gehörte, den Todesstoß versetzen. »Raoul«. Das war nicht sein richtiger Name, da war sie sich sicher - ziemlich sicher. Sam war mit den Vornamen herausgeplatzt, und als sie etwas ungestüm reagiert hatte (sie hatte die Lampe umgestoßen), lächelte er verschlagen und hinterhältig. Oder ziemlich hinterhältig: Er hatte sie gefragt, ob sie tatsächlich glaube, daß »Raoul« und »Evita« die richtigen Namen des Paares da drüben sein könnten. Sam war jedoch schlau, sehr schlau. Es war durchaus möglich, daß er vorgab, sich die Namen gerade ausgedacht zu haben, um zu vertuschen, daß er sie verraten hatte.
Nun gefielen ihr die Namen aber recht gut, und sie bildete sich ein, daß sie in Anbetracht des Hollywood-Glamours, der da drüben entfaltet wurde, durchaus echt sein konnten. Sie hatte Angst vor ihrer wahren Geschichte - sie wollte um Gottes willen nicht wissen, daß sie in Yonkers oder vielleicht sogar in Manhattan lebten. Und was, wenn sie aus irgend so einer verschlafenen mittelgroßen Stadt wie Omaha kamen? Was, wenn sie ein ganz gewöhnliches Haus in einer gewöhnlichen Straße in Des Moines hatten? Menschen, die Namen wie »Raoul« oder »Evita« trugen, konnten jedoch kein einfaches amerikanisches Blut in den Adern haben, sie würden sich wahrscheinlich eher mit dem Auto über eine Klippe stürzen, als in Des Moines zu leben. Sie wollte die wahre Geschichte der Hausbesitzer nicht wissen, und nicht einmal die der Gäste, weil sie Angst davor hatte, daß sie womöglich mittelmäßig waren. So konnte sie ihrer Phantasie freien Lauf lassen und sich Stationen und Ziele für Raoul und Evita ausdenken.
Sie hatte gehört, es habe ein paarmal Klagen wegen der lauten Partys »da drüben« gegeben, doch Sam mit dem ihm eigenen Taktgefühl hatte die Schuldigen nicht verraten. Es war sowieso nicht mehr als besoffenes Rumgehüpfe in der Auffahrt - was Maud nicht sehen konnte und was folglich für sie nicht existierte. Sie hatte bei Gott nichts dagegen, daß getrunken wurde, wenn nur die Gläser erlesen und die Gesten, mit denen man sie erhob, elegant waren.
Sam hatte mit jener unheimlichen Scharfsicht, die er manchmal an den Tag legte, gesagt, daß er nicht vorgehabt habe, ihre Namen zu verraten. »Du weißt nicht mal, ob ich sie mir ausgedacht habe, oder?«, und er hatte mit diesem winzigen Lächeln auf den mondbeschienenen See hinausgeschaut ...
»Tut mir leid«, sagte Sam, der tatsächlich wußte, wo sie wohnten und auch ihre Namen kannte, obwohl er sehr wenig Kontakt mit den Sommergästen hatte, den Besitzern der Viertelmillionen-Grundstücke am anderen Seeufer. In der Dämmerung fuhr er manchmal da drüben herum und wunderte sich über diese Häuser - wie sie sich, von Architekten entworfen, lang und niedrig in die Landschaft schmiegten, sich wie Maulwürfe in ihr eingruben. Obwohl sie so groß waren, tauchten sie dennoch immer wieder überraschend vor ihm auf, kamen zwischen ihrer Tarnung aus Bäumen, Pflanzen und Gebüsch hervor, aber nur dann, wenn er genau hinsah.
Maud brauchte sich keine Sorgen zu machen, daß die Realität von dort hereinbrechen würde, vom Dock herunterspränge und auf sie zuschwämme, winkend, brüllend, singend, ertrinkend. Falls sie je die alten Straßen auf der anderen Seeseite entlangführe, fände sie sie genauso traumhaft.
»Raoul« hatte er sich eines Abends ausgedacht, als er und Florence im einzigen Kino von La Porte gewesen waren, um sich den Film Der Kuß der Spinnenfrau anzusehen. Der Name »Raul Julia« war wohl der beste im ganzen Buch, fand Sam, wenn jemand exotische, geheimnisvolle Menschen und Milieus heraufbeschwören wollte. Was für ein Name! Das war ja ein absoluter Mutter-Grizzell-Name. Ma Gris würde sich den Namen auf der Zunge zergehen lassen. Er fragte sich, ob die beiden noch immer in diesem Wohnwagen rumhingen wie vor einem Jahr. Vielleicht war sie gestorben? Denn trotz all ihrer Zähigkeit und Aggressivität hatte sie nicht allzu kräftig auf ihn gewirkt.
Über die »Evita« war er gestolpert, als er das Nummernverzeichnis der Chrom-Jukebox im Rainbow Café durchging und auf »Don’t Cry for Me, Argentina« stieß. Evita Perón. Er fand, »Evita« paßte außerordentlich gut zu »Raoul«. Es war eine absolute Liebesheirat.
Weiß Gott, sie waren
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