Was am See geschah
Masken.
Dodge meinte offensichtlich, er habe jetzt das Recht erworben abzuhauen, habe die Götter des Zweifels besänftigt, und erhob sich von der Schaukel. Sam bat ihn, doch noch nicht zu gehen, er selber sei doch nur auf einen Kaffee vorbeigekommen und könne nicht lange bleiben.
Aber Dodge streckte sich bloß und gähnte, sagte, er habe einen langen Tag gehabt, und polterte die Verandatreppe hinunter. Die Flasche unterm Arm und die Hände in den Hosentaschen, marschierte er heuchlerisch pfeifend zu seinem Pick-up.
»Wie geht’s dir, Wade?« fragte Sam. Das war keine beiläufige Frage. In den letzten Jahren hatte Sam oft Anlaß gehabt, sich um Wade zu sorgen. Er war ein melancholischer Mensch, aber sehr sanft und angenehm und recht beliebt bei den Leuten in La Porte. Auf seine hochgewachsene, schlaksige Art sah er geradezu gut aus. Der gleichzeitige Tod von Tochter und Ehefrau hatte die Frauen mit ihren frisch gebackenen Kuchen und Hühnereintöpfen in Scharen zu ihm herausgelockt. Sam hatte Ella Ponteen zum erstenmal in einem modischen Kleid und mit einer zugedeckten Schüssel in den Händen gesehen. Kaum daß Frauen Kinder hatten, hatte Sam bei sich gedacht, ist Essen für sie das Allheilmittel. Iß deinen Spinat, trink deinen Saft. Vielleicht hatten sie ja recht.
Sams Frage wurde auch als eine ernste Frage verstanden, die eine ebensolche Antwort erforderte. Wade stellte seine Kaffeetasse einen Moment lang ab, streckte die Arme aus, so daß die großen Hände die Knie umklammerten, und sah an Sam und dem Verandageländer vorbei. »Es ging mir schon besser, Sam. Es ging mir schon besser, wie du wohl weißt.«
Wade nahm die Haltung ein, die er bei ernsten Gesprächen immer einnahm, und begann zu reden. Das Schüchterne und Zögernde verschwand aus seiner Stimme, während er sprach, und seine Rede schlug die übliche Richtung ein. Sam hatte Dodges Platz in der Hollywoodschaukel übernommen, stieß sich mit einem Fuß hin und her, hatte den Arm auf die Lehne, den Kopf auf die zur Faust geballte Hand gelegt. Wade sagte im Prinzip immer dasselbe, und Sam fragte sich, ob es nicht in einer Therapie im Grunde darum ging: immer und immer wieder dasselbe zu sagen, dieselben Ereignisse aus dem Gedächtnis herauszuzupfen und mit leicht veränderten Worten daran herumzumeißeln, als sei das Erlebte eine Skulptur, die sich in einen reichfacettierten Edelstein verwandelte, deren Kern sich jedoch nie veränderte. Es blieb immer der gleiche Stein.
Hörte Dr. Hooper sich das an - immer und immer wieder die gleichen Einzelheiten? Sam schaute in die Ferne, hörte Wades Stimme als eine Art gedämpfte Hintergrundmusik und nahm sich vor, sie danach zu fragen, wenn sie wieder vorbeikam. Vielleicht sogar schon morgen, am Labor Day. Sie übernachtete drüben in der Pension Stucks. Er hatte sie heute schon gesehen, als sie aus dem Rainbow kam, und mußte einfach stehenbleiben und sie anstarren. Sam hatte Maud nicht erzählt, daß Elizabeth Hooper, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aus dem Nichts erschien und die Reste des Lebens anderer Menschen, Erinnerungsfragmente und Gefühlsfetzen in sich trug, für ihn eine schöne, geheimnisvolle Frau war.
»...jetzt sind’s schon vier Jahre, und ich kapier das einfach immer noch nicht, wie jemand so was tun kann, verstehst du...«
Sam überließ sich seinen Träumereien, während ein Teil seines Verstands weiterhin Wades Gedankengang folgte. Denn wenn es auch größtenteils immer die gleiche Studie über Einsamkeit, Schuld und Vergeltung war, so war sich Sam doch nie sicher, ob die Worte des Mannes nicht vielleicht doch noch einen Hinweis enthalten könnten, eine neue Art, es auszudrücken. So lauschte er und starrte in Richtung der unsichtbaren Scheune.
Mit den Händen die Armlehnen umklammernd - als wolle er sich aus dem Stuhl hochdrücken -, saß Wade da und sagte, was er schon viele Male vorher gesagt hatte: daß der Verlust eines Kindes das Bitterste überhaupt sei. Daß das für Sam vielleicht schwer zu verstehen sei, weil er ja keine Kinder habe.
»Keine Kinder.« Es klang, als sei die Tatsache, daß Sams Ehe kinderlos war, eine Strafe und als schließe Sterilität Mitgefühl aus.
»Das Schlimmste ist, daß er ungestraft davongekommen ist. Es ist unerträglich, zu wissen, daß jemand so was tun kann und ungeschoren davonkommt. Ich hab mich schon manchmal gefragt, ob’s dieser Chalmers war.«
Sam hielt die Schaukel an. Wie viele Male hatte er Wade das schon
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