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Was am See geschah

Was am See geschah

Titel: Was am See geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Feldstecher vor den Augen, sagte Sam: »Hmm... tja, es gibt ein paar Leute, die das anders sehen würden.«
    Maud schenkte ihm ein sentimentales Lächeln. »Diese Bemerkung ist unter deiner Würde. Was machst du mit meinem Fernglas? Leg’s hin!«
    Sam ließ es sinken, und es baumelte am schmalen schwarzen Riemen. »Um Himmels willen, dazu ist es doch da. Um in die Ferne zu gucken. Was machst denn du damit, deine Zehen zählen?«
    Maud begann, ihr Haar an der Seite hochzurollen, als sei der See ihr Spiegel. Sie wußte, daß diese Bewegung Sam irritierte. »Es gilt die Regel, daß wir die Gesellschaft nicht aus der Nähe sehen sollen.«
    Sam seufzte. »Diese Regel hast du dir gerade ausgedacht.«
    Mit gespielter Freundlichkeit sagte Maud: »Bis jetzt hab ich sie nie gebraucht. Die Regel besagt, daß man nicht versuchen soll, die Leute da drüben aus größerer Nähe zu sehen, als es mit bloßem Auge möglich ist. Ich weiß nicht, warum es so ist, also frag mich auch nicht. Das ist die Regel. Ich glaube, es ist, weil -« Maud hörte auf, ihren Drink zu schlürfen und mit dem Glasflamingo umzurühren - »es das Bild verderben würde. Es würde alles zerstören.« Sie starrte in den Nachthimmel hinauf. »Der Mond würde einen Riß bekommen, der Spiegel zerspringen wie Glas, die Terrasse wegkippen und das Pier würde einstürzen.«
    Einen Augenblick lang sah Sam sie an. »Was redest du da bloß für einen Mist!«
    Sie strich sich langsam über den Rock, als befänden sich Krümel auf ihrem Schoß. »Weil du blind bist. Du kannst nichts sehen, wenn das Bild nicht absolut scharf ist.«
    Sam riß sich schwungvoll den Feldstecher vom Hals und legte ihn auf das Pier. Er zog ein Coors aus dem Eimer und riß den Verschluß ab. Wenigstens hatte sie das Thema Eunice Hayden fallengelassen. Und deswegen war er wirklich froh, hier zu sitzen und ihrem Gelaber über irgend so ein Scheißzimmer zuzuhören, das sie in einer Vision gesehen hatte.
    »Ich hab nicht ›Vision‹ gesagt. Ich bin keine Hellseherin oder Clairvoyante - was übrigens eines meiner Lieblingswörter ist. Es ist so melodisch... Aber, egal, ich hab von einem Zimmer gesprochen, das in meiner Vorstellung existiert. Ich sehe es immer wieder. Es muß in Spanien sein; der Boden ist mit Azulejos gefliest. Oder in Mediterranea. Das Wetter -«
    Sams Kopf fuhr hoch. »›Mediterranea‹? Das gibt es doch gar nicht.«
    Sie seufzte und ließ den Kopf in die Hand sinken. »Ich meine damit - was doch wirklich jeder Idiot kapiert - irgendein Land oder einen Ort am Mittelmeer. Mein Gott, kann ich dir jetzt von diesem Zimmer erzählen?«
    »Schieß los.«
    »Das Wetter ist herrlich. Also, es ist nicht bloß sonnig; es ist wie Seide und Musselin. Es gibt ein Bett mit einem Eisengestell und einen großen Schrank und einen Holzstuhl, der vor einer Art Toilettentisch steht. Ein klein wenig pfirsichfarbener Puder ist auf dem Tisch verschüttet. Eine von diesen alten Pond’s Puderdosen steht auf der Glasplatte... wenn man die in Mediterranea wahrscheinlich auch nicht kaufen kann. Die Vorhänge sind durchscheinend wie Chiffon und bauschen sich vor dem Fenster, das aufs Meer hinausgeht. Es gibt einen kleinen schmiedeeisernen Balkon, auf den ich hinausgehen kann - ich habe ein weites Kleid an und bin barfuß -, einen Balkon also, auf den ich hinaustreten und von dem aus ich aufs Meer schauen kann. Das Meer hat die Farbe von Jade, bis dann um sechs die Sonne allmählich untergeht und einen blendenden Lichtschleier darüber wirft und es in Topas verwandelt. In der Nacht hat es die Farbe von Trauben. Und ständig ist es in Bewegung. Die Wellen, die sich an der Küste brechen, kann ich nicht sehen, weil mein Zimmer sehr hoch gelegen ist; aber ich kann gerade so erkennen, wie sich weit draußen winzige Fältchen bilden. Nachts, wenn der Mond sehr hell scheint, was er meistens tut, sehe ich die schmalen weißen Schaumstreifen, das weiße Gekräusel.« Maud hielt inne, um sich eine Zigarette aus seiner Schachtel zu nehmen und den Tabak zurückzuklopfen. Sie hatte ihre eigenen, aber sie stibitzte sich gerne mal eine von seinen.
    »Steht der Eiskübel auf dem Balkon?«
    Sie blinzelte über der blauen Flamme. »Was?« Dann schaute sie auf die Wanne und runzelte die Stirn, als sei der Gegenstand, der da bedenklich auf dem Pierende schwankte, auch wieder so was Neumodisches. »Nein«, fuhr sie ihn an. »Wenn ein Eiskübel da wäre, hätte ich’s gesagt.«
    Gefährliches Terrain, aber Sam meisterte es.

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