Was aus den Menschen wurde: Meisterwerke der Science Fiction - Mit einem Vorwort von John J. Pierce (German Edition)
Flavius.
»Wie kann dann ich lebendig sein – ich, Sto Odin?«
»Sie müssten es eigentlich selbst fühlen, Sir«, erklärte Livius, »obwohl die Gedanken von alten Menschen seltsam sind.«
»Wie kann ich lebendig sein?«, wiederholte Sto Odin, und seine Blicke glitten über die Stadt. »Wie kann ich lebendig sein, wenn die Menschen, die mich kannten, tot sind? Sie huschten wie Nebelgeister, wie Wolkenfetzen durch die Gänge. Sie waren hier und sie liebten mich und sie kannten mich, und nun sind sie tot. Nehmt meine Frau, Eileen. Sie war ein hübsches Ding, ein braunäugiges Kind, das ganz vollkommen und ganz jung aus dem Lernzimmer kam. Die Zeit umfing sie, und sie tanzte zu ihrer Kadenz. Ihr Körper wurde füllig, wurde alt. Wir reparierten ihn. Aber schließlich krümmte sie sich doch zum Tode zusammen und ging an einen Ort, an den auch ich gehen werde. Da ihr tot seid, müsst ihr mir doch sagen können, was der Tod ist, wo die Körper und Gedanken und Stimmen und Musik der Männer und Frauen durch diese riesigen Gänge streifen, über dieses unvergängliche Pflaster, und dann verschwunden sind. Wie konnten vergängliche Geister wie ich und meinesgleichen, jeder nur mit ein paar Dutzend oder ein paar Hundert Jahren ausgestattet, bevor die großen blinden Winde der Zeit uns fortwehen – wie konnten Phantome wie ich diese massive Stadt bauen, diese wunderbaren Maschinen, diese hellen Lampen, die niemals erlöschen? Wie haben wir das geschafft, wenn wir so schnell verblassen, jeder von uns, wir alle? Wisst ihr es?«
Die Roboter schwiegen. Mitleid war ihnen nicht einprogrammiert worden. Dennoch bedrängte sie Lord Sto Odin weiter.
»Ihr bringt mich zu einem wilden Ort, einem freien Ort, einem bösen Ort vielleicht. Dort sterben sie auch, wie alle Menschen sterben, wie ich so bald, so freudig, so einfach sterben werde. Ich hätte schon vor langer Zeit sterben sollen. Ich war die Menschen, die mich kannten, ich war die Brüder und Kameraden, die mir vertraut haben, ich war die Frauen, die mich trösteten, ich war die Kinder, die ich so schmerzlich und so süß vor vielen langen Jahren geliebt habe. Nun sind sie fort. Die Zeit umfing sie, und sie waren nicht mehr. Ich kann jeden, den ich jemals gekannt habe, durch diese Gänge eilen sehen, und sie sind jung wie kleine Kinder, und sie sind stolz und weise und beschäftigt und erfahren, und schließlich sind sie alt und gekrümmt, wenn die Zeit nach ihnen greift und sie hastig mit sich nimmt. Warum haben sie das getan? Wie kann ich weiterleben? Wenn ich tot bin, werde ich dann wissen, dass ich einst gelebt habe? Ich weiß, dass einige meiner Freunde den Tod betrogen haben und in eisigem Schlaf ruhen, weil sie sich etwas erhofften, was sie selbst nicht kannten. Ich habe ein Leben gehabt, und ich weiß es. Was ist das Leben? Ein wenig Spiel, ein wenig Lernen, einige wohlgesetzte Worte, etwas Liebe, ein Schmerzeshauch, noch mehr Arbeit, Erinnerungen und dann Staub, der dem Sonnenlicht entgegenstrebt. Das ist alles, was wir daraus gemacht haben – wir, die wir die Sterne erobert haben! Wo sind meine Freunde? Wo ist mein Ich , dessen ich einst so sicher war, als die Menschen, die mich kannten, von der Zeit fortgeblasen wurden wie sturmgepeitschte Lumpen, die der Dunkelheit und dem Vergessen entgegentreiben? Sagt es mir. Ihr müsstet es doch wissen! Ihr seid Maschinen, und man hat euch die Gedanken von Menschen verliehen. Ihr müsstet es wissen, was wir wert sind, von außen betrachtet.«
»Wir wurden«, erwiderte Livius, »von Menschen gebaut, und wir besitzen, was die Menschen uns eingegeben haben, und weiter nichts. Wie können wir Fragen wie die Ihren beantworten? Sie widerstreben unserem Verstand, so gut unser Verstand auch sein mag. Wir empfinden keinen Kummer, keine Furcht, keinen Zorn. Wir kennen die Bezeichnungen für diese Gefühle, aber wir wissen nicht, worüber Sie sprechen. Versuchen Sie uns zu erklären, was es bedeutet, am Leben zu sein? Wenn es so ist, dann wissen wir es bereits. Nicht genau. Nicht viel. Vögel leben auch, ebenso wie Fische. Es sind nur die Menschen, die sprechen und das Leben mit Qualen und Rätseln verwirren können. Ihr bringt alles durcheinander. Niemals hat Geschrei die Wahrheit wahrer gemacht, zumindest nicht für uns.«
»Bringt mich hinunter«, befahl Sto Odin. »Bringt mich hinunter in das Gebiet , in das sich seit vielen Jahren kein anständiger Mensch mehr hineingewagt hat. Ich möchte mir ein Urteil über diesen Ort
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