Was bin ich wert
liegt zwischen 20 und 70, der Durchschnitt eher bei der letzten Zahl.
Einen offiziellen Ethikrat gibt es in Deutschland seit 2001. Die anfängliche Zusatzbezeichnung »national« wurde 2007 durch »deutsch« ersetzt. Die 26 Mitglieder werden je zur Hälfte von Bundestag und Bundesregierung gewählt. Sie verfolgen die aktuell relevanten »ethischen, gesellschaftlichen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und rechtlichen Fragen«, informieren dazu die Öffentlichkeit und erarbeiten Stellungnahmen und Empfehlungen für die Politik. Vielleicht, so meine Hoffnung, können sie auch mir helfen, den Zusammenhang oder auch die Abgründe zwischen Ökonomie, Ethik und dem Wert des Menschen zu verstehen.
Der altehrwürdige Saal ist für diesen Tag mit reichlich Licht- und Tontechnik ausgestattet. Vorn in den ersten Reihen sitzen die Ratsmitglieder in dunklen, zum Teil wohltuend unmodischen Anzügen, die Damen in entsprechenden Kostümen. Der Frauenanteil liegt bei knapp 30 Prozent.
Die Mitglieder des deutschen Ethikrates sind von Haus aus Philosophen, Mediziner, Juristen, Theologen, Politiker oder Naturwissenschaftler. Gut die Hälfte trägt einen Professorentitel. Ein Ökonom ist nicht dabei.
Titel der Veranstaltung ist »Der steuerbare Mensch – Über Einblicke und Eingriffe in unser Gehirn«. Dazu ist eine Reihe von Experten geladen, die im Lauf des Tages kurze Vorträge halten werden. In einer einleitenden Rede wird die Frage gestellt, warum der Mensch ist, was er ist, und warum er tut, was er tut.
Klar, das sind gute Fragen. Obwohl mich natürlich noch mehr interessiert, was der Mensch wert ist und wer das wie berechnen darf. Darauf bekomme ich an diesem Tag aber keine Antwort. Auf die anderen Fragen allerdings auch nicht wirklich.
Ich muß näher rangehen. Professor Volker Gerhardt von der Berliner Humboldt-Universität hat sich eingehend mit Kant beschäftigt und viel dazu veröffentlicht. Kant schrieb, der Mensch habe »als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft einen absoluten inneren Wert«, »durch den er jedem vernünftigen Weltwesen gleichgestellt« sei. Außerdem sieht Gerhardt mit seinem fast kahlen, asketischen Schädel tatsächlich so aus, wie man sich einen Philosophen vorstellt.
Sein Büro liegt im Hauptgebäude der traditionsreichen Humboldtuniversität Unter den Linden. Ein großer Raum mit zahlreichen Tischen, auf denen zahlreiche Bücher liegen. Es sieht nach Arbeit aus, viel Arbeit. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängen lange Reihen meist sehr kleiner, gerahmter Schwarzweißfotos. Die Porträts großer Philosophen. Ich erkenne die wenigsten, bin aber überrascht, mittendrin auf Marilyn Monroe zu stoßen.
Gerhardt ist Mitte Sechzig und Mitglied vieler honoriger Kommissionen, Räte und Akademien. Auch in China hat er einen Lehrauftrag. Überrascht stellen wir beim Kennenlernen fest, daß wir im selben Viertel einer Kleinstadt zwischen Ruhrgebiet und Sauerland aufgewachsen sind. Da Gerhardt 20 Jahre älter ist, sind wir uns dort aber nie bewußt begegnet und können uns, wie Gerhardt erleichtert feststellt, deswegen dort auch nicht geprügelt haben.
Ich erzähle ihm von meiner Frage, berichte von meinen Recherchen, den vielen Zahlen, auf die ich schon gestoßen bin, und meinen Schwierigkeiten, diese einzuordnen. Und ich frage ihn, ober er mir bei dieser Einordnung als Kant-Kenner und renommierter Moralphilosoph vielleicht helfen könne. Gerhardt nickt, und dann legt er los.
– Nach Kants dezidierter Auffassung ist jeder Mensch auch ein Mittel. Und in dieser Mittelfunktion kann er für die Ökonomie, für die Freunde, für die Familie als wertvoll und vorteilhaft eingeschätzt werden. Und da kann alles seinen Affektionspreis und auch seinen Marktpreis haben.
Affektionspreis, lese ich später nach, wird als Wert definiert, der einer Sache oder Leistung mit Rücksicht auf das Gefühl des Besitzers oder Leistenden beigelegt wird. So kann ein auf dem Markt wertloser Stuhl einen hohen Affektionswert haben, weil der Besitzer mit ihm besondere Erinnerungen verbindet. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Marktpreis, den Gerhardt anspricht, zum Beispiel auf die Tatsache, daß für Arbeitskraft – aber nicht für den Menschen als solchen – auf dem Markt durchaus unterschiedlich hohe Summen bezahlt werden.
– Aber es kommt darauf an, den Menschen immer auch als einen Zweck an sich selber zu begreifen. Und insofern kann man ihn zwar als Mittel schätzen, als Freund, als Vater, als
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