Was bin ich wert
Gerhardt.
– Was der vulgäre Utilitarismus anrichten kann, haben uns die totalitären Bedingungen vorgeführt. »Du bist nichts, dein Volk ist alles.« Wir haben uns auch vor den ökonomistischen Varianten solcher Thesen zu schützen. Demgegenüber kommt es darauf an, den Willen des einzelnen zu sichern. Jeder muß selbst über sein Leben entscheiden können. Darin liegt die Quelle aller menschlichen Wertung.
Er lehnt sich zurück.
– Von der Ökonomie erwarten wir die Technik einer möglichst optimalen Bedürfnisbefriedigung der Menschen. Doch sie muß bestimmte Dinge respektieren, die unabhängig von der Ökonomie gelten. Da ist zum Beispiel die Eigenständigkeit des einzelnen Menschen. Da sind seine Freiheit, sein gleiches Recht und seine Würde. In dem Willen des einzelnen liegt ein absoluter Wert, der nicht angetastet werden darf.
Dann ist ja alles gut oder besser: ganz einfach. Zumindest theoretisch. Die Praxis – weiß natürlich auch Gerhardt – hat da doch noch ein paar Herausforderungen parat.
– Es wäre Phantasterei anzunehmen, daß unter den Knappheitsbedingungen, unter denen Menschen bisher immer leben mußten, das Rechnen und Kalkulieren vermeidbar wäre. Egal ob im Kapitalismus, im Sozialismus oder Kommunismus: Sobald etwas knapp ist, wird gerechnet. Das macht der einzelne, wenn er klug ist, und dazu ist der Staat nicht nur genötigt, sondern auch verpflichtet. Das ist unbehaglich, kann aber auch Sicherheit geben, weil man weiß, woran man ist.
Der Staat darf also doch? Da ist sie wieder: meine Verwirrung. Die Abwägungen, wann es vertretbar ist, zu rechnen, und wann nicht, klingen für mich nach einer Art Gratwanderung ohne Aussicht auf eine sichere Berghütte, zumindest aber nach einer gewaltigen Herausforderung für die Zukunft.
– Wir müssen bei der Verteilung elementarer Güter – wie etwa Gesundheit – dafür sorgen, daß der einzelne nicht ungerecht behandelt wird, auch wenn das vielleicht immer schwieriger wird. Wenn wir die Selbstbestimmung aus ökonomischem Kalkül abschaffen, geben wir das Grundprinzip einer Gesellschaft auf, die auf Freiheit, grundsätzliche Gleichheit und die Achtung der menschlichen Würde setzt.
In der gerechten Verteilung der knappen Güter sieht Gerhardt eine sozialpolitische Herausforderung. Sie ist für ihn mit dem Armutsproblem verknüpft. Wären alle gleich reich, würde sich die Frage gar nicht stellen. Der von vielen Ökonomen beschworenen Selbstregulierung des Marktes scheint er nicht so recht zu trauen.
– Es liegt in der Verantwortung der Politik, diese Dinge gesamtgesellschaftlich durchzurechnen und mit Steuern und entsprechenden Einschränkungen zu lenken.
Er schaut auf die Tische mit den vielen Büchern. Ganz offensichtlich denkt er an die Arbeit, die heute noch vor ihm liegt. Ich verstehe. Soll ich wohl auch. Ich mache mich bereit zu gehen. Eine Frage noch.
– Nehmen die Ansätze, alles berechnen zu wollen, zu?
– Es würde mich wundern, wenn es anders wäre. Wir haben immer feinere Methoden zur Erfassung einzelner Handlungs- und Arbeitsabläufe und können vieles viel genauer erfassen und nachrechnen.
Mit einem feinen Lächeln leitet er das Schlußwort ein.
– Aber es ist entscheidend, welchen Stellenwert man diesen Berechnungen gibt. Wir dürfen, ich wiederhole mich gern, weil es so wichtig ist, das Grundprinzip der Würde der menschlichen Person nicht aufgeben. Es ist die Bedingung aller Wertungen überhaupt
Auf dem Heimweg fasse ich zusammen: Die Würde ist eine Hürde, über die hinweg man den Wert eines Menschen nicht einfach so berechnen darf. Allerdings sind, so Gerhardt sinngemäß, nicht alle Rechnungen verdammenswertes Teufelszeug. Wo genau aber verläuft die Grenze? Das Bild von der Gratwanderung werde ich nicht los. Es bleibt, auch wenn das banal klingt, erst mal kompliziert.
Es gibt aber immer wieder Situationen, in denen es nicht möglich ist, der Frage, wie man einen Menschen bewerten soll, auszuweichen. Ich denke an die Folgen des 11. September 2001. Die Diskussion um die Entschädigung der Opfer. Allerdings hat die US -Regierung sehr wohl versucht, sich vor den konkreten Entscheidungen zu drücken. Sie hat die Verantwortung einem einzigen Mann übertragen.
15.
2880 Tote, 2680 Verletzte, sieben Milliarden US -Dollar und einer, der das Geld verteilt. Kenneth Feinberg und der 11 . September 2001
Nach den Anschlägen in New York, Washington und Pennsylvania beschloß die US
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