Was bin ich wert
Sohn. Aber man muß sehen, daß er vor allem ein Mensch ist. Und als dieser Mensch geht sein Wert gleichsam gegen unendlich.
Klare Aussage. Ich bin dankbar. Gerhardt macht weiter.
– Hinter der Einschätzung des Wertes eines menschlichen Lebens steht die moderne Diskussion über den Begriff der Würde. Dieser Wert der Würde kann grundsätzlich nicht verrechnet werden. Dementsprechend heißt es im ersten Artikel des Grundgesetzes, die Würde ist unantastbar. Hier hat also alles Abwägen und Verrechnen ein Ende.
Kleine Pause. Gerhardt läßt wirken, ich lasse sacken. Die im Grundgesetz formulierten Rechte können nicht einmal von einer demokratischen Mehrheit aufgehoben werden. Schon der Politiker Hermann Scheer hatte den Schutz der Würde durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen betont und darauf hingewiesen, daß es dabei keine Einschränkung wie »soweit ökonomisch zumutbar« oder »nur, wenn mit der marktwirtschaftlichen Ordnung zuvereinbaren« gebe. Sowohl die Menschenrechte als auch das Grundgesetz wurden vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust verfaßt. Laut Brockhaus ist die Würde »die einem Menschen kraft seines inneren Wertes zukommende Bedeutung«. Dabei haben »Würde« und »Wert« interessanterweise denselben sprachgeschichtlichen Wortstamm.
Im Sinne Kants wohnt die Würde dem Menschen prinzipiell inne, unabhängig von seinen sonstigen, etwa charakterlichen oder intellektuellen Eigenschaften und Fähigkeiten oder seiner sozialen Stellung. Kurzum: Jeder hat sie. Allerdings wird sie dem Menschen – Beispiel Menschenrechte – keinesfalls selbstverständlich zugestanden. Sie muß vielmehr immer wieder eingefordert und durchgesetzt werden.
Gerhardts Ausführungen sind für mich etwas verwirrend. Auf der einen Seite soll ich einen Markt- und einen Affektionspreis haben, auf der anderen Seite soll mein Wert ungefähr unendlich oder besser unverrechenbar sein?
– Das klingt aber ein wenig schizophren, oder?
Gerhardt schaut erst ein wenig erstaunt, dann ein wenig belustigt. Er schüttelt den Kopf.
– Es bedeutet, daß man diese Berechnungen nicht von außen anstellen darf. Jeder muß das selbst bestimmen. Die Selbstbestimmung setzt eine absolute Grenze. Von Schizophrenie kann da, so meine ich, keine Rede sein.
Es geht um die Berechnung des Menschen als solchem, oder, mit Kants Worten, um den Menschen als »Zweck an sich selbst«. Der Staat, so verstehe ich Gerhardt, sollte davon wohl die Finger lassen. Seinen Marktpreis hinsichtlich der Arbeitsleistung kann bzw. muß aber nicht jeder selbst bestimmen. In der Regel geschieht das von außen, ist ja schließlich ein Markt preis. Obwohl es andersherum ja auch eine reizvolle Vorstellung wäre.
– Und was ist mit den Ökonomen, die den Wert eines Menschenlebens, etwa aus volkswirtschaftlicher Perspektive, berechnen? Viele Ökonomen scheinen die Ethik für sich gleich mitgepachtet zu haben?
– Dieses Argument der Ökonomen ist hinreichend bekannt. Es greift aber zu kurz. Für die Ökonomen ist es bereits ein hohes ethisches Ziel, den Markt bestmöglich zu bedienen und im utilitaristischen Sinn möglichst viele Bedürfnisse zu befriedigen. Doch es kommt auf die Qualität der Güter und auf die selbstbestimmten Ansprüche der Menschen an.
Die philosophische Schule des Utilitarismus – vom lateinischen utilitas für Nutzen – wurde von dem englischen Philosophen Jeremy Bentham und in seiner Nachfolge von seinem Landsmann John Stuart Mill ab dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entwickelt. Sie erkennt ideale Werte nur an, wenn sie dem einzelnen und vor allem der Gesellschaft nutzen, und bewertet insbesondere Handlungen positiv, die das »größte Glück der größten Zahl« fördern. Dieses allgemeine und größtmögliche Glück entspricht der Summe des Glücks der einzelnen Individuen. Eine grundsätzliche Schwierigkeit liegt in der praktischen Summierung des Einzelglücks, da der Utilitarismus die Bedürfnisse, die dem Glück zugrunde liegen, nicht bewertet. Darüber hinaus ist es für die utilitaristische Gerechtigkeitsvorstellung gleichgültig, wie der Nutzen und die Opfer auf die einzelnen Mitglieder verteilt sind, solange das Wohl in seiner Summe maximiert wird.
– Bei den Utilitaristen geht es um die Masse, und der einzelne gilt nichts. Wir müssen aber sehen, daß die vielen uns so viel wert sind, weil sie Individuen sind. Und nur auf sie kommt es an.
Sagt
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