Was bin ich wert
von außen«, seine Einsicht, der Staat sei »verpflichtet« zu rechnen, meine Verwirrung bei dem Versuch, dies zusammen zu denken, und das Bild einer Gratwanderung, das mir dabei in den Sinn kam. Vielleicht, so denke ich, verläuft ja dieser Grat, diese Wanderung irgendwo zwischen »A« und »B«.
– Wir sind davon auch heute gar nicht so weit entfernt, wie wir gern denken. Nehmen Sie Trisomie 21, Kinder mit dem Down-Syndrom.
Weltweit wird jedes 800. Kind mit dem Down-Syndrom – früher diskriminierend »Mongolismus« genannt – geboren. Betroffene Menschen können, müssen aber nicht geistig behindert sein. Die derzeitige Gesetzeslage erlaubt im Fall einer entsprechenden Indikation eine Abtreibung zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft, also bis zur Geburt, und somit auch die Tötung von bereits zu selbständigem Leben fähigen Föten. Experten schätzen, daß in mehr als 90 Prozent der entsprechend diagnostizierten Fälle die Schwangerschaft abgebrochen wird.
– Von diesen Kindern gibt es immer weniger. Nicht, weil das heute seltener vorkommt, sondern weil es erstens eine immer präzisere Pränataldiagnostik gibt und weil dann eben zweitens immer häufiger abgetrieben wird. Mögen jetzt noch individuelle Entscheidungen im Vordergrund stehen, darf der gesellschaftliche und politische Einfluß nicht unterschätzt werden. Denn sind behinderte Kinder, die aufgrund moderner Diagnostik hätten verhindert werden können, dann aber später auf Kosten der Allgemeinheit Leistungen in Anspruch nehmen, nicht eine Zumutung?
Halling lehnt sich zurück. Solche Argumentationen, räumt er ein, »sind noch nicht gesellschaftsfähig, aber sicherlich nicht undenkbar«. Ich bin, so scheint es mir, mit meiner Recherche nach meinem Wert beziehungsweise dem Wert des Menschen in einem Herz der Finsternis angekommen.
– Sollte man den Wert des Menschen überhaupt nicht berechnen?
Halling schüttelt den Kopf.
– Nein, so weit kann man nicht gehen. Aber wir haben historisch gesehen, daß das hochkomplexe mathematische Berechnungen sind, die – und da liegt das Problem – ihre Prämissen verschleiern. Die einzelnen Berechnungen sind und waren auch historisch nachvollziehbar. Sie basieren aber sehr häufig auf bestimmten politischen oder moralischen Vorannahmen, und auf dieser Grundlage wird dann gerechnet. Wenn Sie von anderen Vorannahmen oder Vorstellungen ausgehen, dann erhalten Sie am Ende ein anderes Ergebnis. Außerdem kann jeder dieses Ergebnis aus dem Zusammenhang ziehen und für sich nutzen, wie es ihm paßt.
Halling gibt dem Gedanken Zeit. Das Thema spiele im übrigen bei vielen Diskussionen eine Rolle, auch solchen, bei denen es nicht unbedingt »draufstehe«. Als Beispiel nennt er den Humankapitalansatz, die Bildungspolitik, die gezielten Investitionen in Elitenbildung statt einer Förderung in der Breite. Vögele räuspert sich.
– Man weiß ja eben auch oft nicht, was aus dem gemacht wird, was man da berechnet hat. Man kann das an verschiedenen historischen Beispielen nachzeichnen.
Vögele verweist auf die Geschichte der Sozialhygiene, die sich Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Verhältnis von Krankheiten und sozialer Lage beschäftigte. Dabei wurden Programme zum gesundheitlichen Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen, wie Säuglinge, Mütter oder chronisch Kranke, entwickelt. Im Hintergrund stand aber bereits die »Gesundung des Volkes«, also seine gesundheitliche, volkswirtschaftliche und letztlich auch militärische »Aufwertung«. Einige derForscher entwickelten diesen Aspekt weiter und wandten sich der Rassenhygiene zu, die, so Vögele, darauf zielte, bestimmte Personengruppen aus der Gesellschaft zu verdrängen, sie also in Heime zu stecken oder beispielsweise als sogenannte »Erbkranke« von der Fortpflanzung auszuschließen. Denn Medizin, Hygiene und sozialer Fortschritt, so der Vorwurf der Rassenhygieniker, würden die »natürliche Auslese« hemmen, weshalb es zu einer »widernatürlichen« Zunahme »lebensuntüchtiger« Individuen käme. Dabei ging, so Vögele und Woelk in ihrem Aufsatz, die von den Rassenhygienikern vorgenommene biologische Reduktion des Menschen auf sein Erbgut spätestens seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts »einher mit der ökonomischen Reduktion des Menschen auf seinen volkswirtschaftlichen Wert«. Vögele schaut ernst.
– Man hat nicht mehr in der Hand, was passiert, wenn der Wert des Menschen einmal durchgespielt wurde und die Parameter
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