Was bin ich wert
er sich mit seinen Eltern und vier Geschwistern teilt. Anschließend gingen wir einkaufen. Die Leitung des Hilfsprojekts, das mich mit Gulam zusammengebracht hatte, bat mich aus nachvollziehbaren Gründen, dem Jungen kein Geld zu geben. Der zwangsläufig aufkommende Neid der anderen betreuten Kinder könnte die schwierige Balance der Gruppe zerstören. Eine vertretbare Alternative sei aber der Kauf einer Hose.
So stand ich also allein mit Gulam in einem Hosenladen und versuchte, mich mit ihm zu verständigen. Mohsin, der Übersetzer, war anderweitig beschäftigt. Nachdem Gulam, sich immer wieder mit Blicken nach mir vergewissernd, eine Jeans ausgesucht hatte, richteten sich seine nervös-sehnsüchtigen Augen erst auf ein paar billige Turnschuhe, dann auf ein T-Shirt, schließlich auf eine Baseball-Kappe. Als auch das alles für wenige Euro und gegen die ursprüngliche Verabredung gekauft war, deutete er auf eine billige Armbanduhr, deren Kauf ich aber verweigerte.
Wir gingen noch in ein einfaches Restaurant, in dem sich Gulam auf meine überschaubaren Kosten den Bauch vollschlagen durfte, bis dieser ihn offensichtlich schmerzte. Wir verabschiedeten uns mit hilflosen Gesten. Der große, reiche Deutsche und der arme kleine Inder. Gulam ging mit vollen Einkaufstaschen zurück in sein Elendsviertel. Er wirkte erschöpft und überfordert. Ich fragte mich, was wohl seine Brüder sagen würden oder sein Vater, der ihm diese einfachen Dinge nicht bieten konnte. Ich hatte Zweifel, ob meine bescheidenen Ausgaben irgend jemanden glücklich machen würden. Das Gefühl, daß eine Verbindung wie zwischen Gulam und mir in erster, zweiter und wohl auch dritter Linie auf seiner Not und meinem überflüssigen Geld beruht, fand und finde ich bedrückend.
Aber natürlich zahlte ich weiter für ihn, bis ich einige Zeit später von der Organisation die Nachricht bekam, sie könne Gulam nicht mehr unterstützen, weil er trotz vieler Gespräche und Warnungen nicht mehr zur Schule gehen wolle. Ich war nicht wirklich überrascht, aber trotzdem traurig. Das Angebot, mir ein neues Patenkind zu vermitteln, lehnte ich ab. Allerdings leiste ich weiterhin meinen kleinen Beitrag zur Arbeit des Projekts.
Nun sitzt also Mohsin in meiner Küche. Er ist nach Deutschland gekommen, um ein freiwilliges soziales Jahr in einer anthroposophischen Einrichtung in Schleswig-Holstein zu absolvieren, und hat ein paar freie Tage.
– Mohsin, was glaubst du, ist ein Mensch wert? In Geld umgerechnet.
– Du meinst, wenn ich mich verkaufen müßte?
Ich bin baff. Er ist sofort im Bilde, antwortet ohne zu zögern.
– Kannst du dir das vorstellen?
– Ja, wenn meine Familie in Not wäre. Aber es müßte eine hohe Summe sein, denn wenn ich einmal verkauft bin, gehöre ich nicht mehr zur Familie. Dann kann ich ihnen nie wieder helfen. Deswegen müßten auch zukünftige Probleme abgedeckt sein.
Mohsin ist sehr pragmatisch, und er kennt das Leben in einem indischen Slum.
– Was wäre also dein Preis?
– Ich muß überlegen.
– Bitte.
Er überlegt.
– 20 Millionen Rupien wären ein guter Preis.
20 Millionen Rupien sind etwa 300 000 Euro. Für die riesige Mehrheit der indischen Bevölkerung ist das eine unvorstellbar hohe Summe. Als Mohsin sie nennt, sieht er ein bißchen aus wie ein Pokerspieler.
– Ich bin gebildet, spreche vier Sprachen – Bengali, Hindu, Englisch und Deutsch, ich habe im Ausland gelebt und dort eine Ausbildung gemacht. Ich könnte die Kinder meines Herrn unterrichten, seine Arbeit und seine Termine koordinieren. Ich bin kein billiger Landarbeiter. Für diese Summe könnte meine ganze Familie – mein Vater, meine Stiefmutter, fünf Geschwister – zwei Generationen lang ohne Sorgen leben. Das ist ein entscheidender Punkt.
– Und was wäre der Preis für einen »billigen« Landarbeiter?
– Ein Mann ohne Ausbildung, irgendwo auf dem Land mit Familie?
– Ja.
– Vielleicht 400 000 Rupien, 6000 Euro.
– Und jemand, der in einem Slum lebt?
– Der Preis für einen Slumbewohner, der auf der Straße lebt, um den sich keiner kümmert und der von niemandem akzeptiert wird, wäre etwa 40 000 Rupien, 600 Euro.
Mohsin erzählt von Familien aus seinem Nachbarviertel in Kalkutta, die Babys von armen Eltern gekauft haben, weil die eigenen Kinder keinen Nachwuchs bekommen können. Der Preis war ein kleines Stück Land und umgerechnet knapp 500 Euro. In der neuen
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