Was bin ich wert
die Menschenbewertung dann vor allem in der Phase der Hochindustrialisierung, als ständig und in großer Zahl gesunde Arbeitskräfte benötigt wurden, und »Gesundheit zu einem sozialen Gut wurde«. In diesem Zusammenhang verweisen die Autoren exemplarisch auf den 1818 geborenen Begründer der experimentellen Hygiene, Max von Pettenkofer. Der beschäftigte sich unter anderem mit den Ursachen und Folgen der Cholera, wobei er ausdrücklich auf die allgemeinen Kosten der Krankheit verwies. Die Aufgabe der Gesundheitspflege sah er nämlich »vor allem in der Vermeidung von Krankheitskosten und Arbeitsausfällen«. So nutzte er den Humankapitalansatz für klassische Kosten-Nutzen-Analysen, um die Investitionskosten für sanitäre Einrichtungen zu bewerten und letztlich auch zu begründen. Als 1892 in Hamburg ungefiltertes Leitungswasser eine Cholera-Epidemie mit 8000 Toten verursachte, kalkulierte er nicht nur die »direkten« finanziellen Verluste durch Erkrankungen und Todesfälle, sondern auch den Schaden der »eingeschränkten wirtschaftlichen Tätigkeit« etwa aufgrund von Quarantänemaßnahmen. Einem Gesamtverlust von 430 Millionen Mark wurde, so Vögele und Woelk, die im Vergleich dazu »bescheiden anmutenden Kosten von 22,6 Millionen Mark für das im folgenden Jahr gebaute Wasserwerk gegenübergestellt«.
Bei all den Verbesserungen der allgemeinen Lebensbedingungen, die aufgrund solcher Ansätze erfolgten, hatte die so gelegte Spur fatale Folgen. Engels Grundannahme, jeder Mensch habe seinen Wert, stieß spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts auf Widerspruch, als andere Autoren von einem »Nullwert« beziehungsweise einem negativen Wert für das Leben bestimmter Menschen oder auch ganzer Bevölkerungsgruppen ausgingen. Aus dieser Perspektive ließ sich dann ein monetärer Schaden für die Gesamtgesellschaft errechnen. So wurden schon um die vorletzte Jahrhundertwende herum, und somit lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus, Forderungen laut, die auf die Zwangssterilisation bestimmter Gruppen oder Euthanasiemaßnahmen für »wertloses Leben« drängten.
»Die Frage nach dem Wert des Menschen erlebte« dann, so Vögele und Woelk im erwähnten Aufsatz, »durch den Ersten Weltkrieg eine Radikalisierung, die immer stärker die qualitativen Unterschiede und damit die unterschiedlichen Wertigkeiten von Menschen in den Vordergrund stellte«.
– Wegen des allgemeinen Nahrungsmangels, vor allem in den harten Kriegswintern, wurden die Insassen der psychiatrischen Einrichtungen nicht mehr ausreichend ernährt.
Erläutert Halling die Situation nach 1914.
– Sie standen in der sogenannten »Ernährungspyramide« ganz unten. Die Soldaten, so das Argument, kämpften für Volk und Vaterland, die Behinderten taten hingegen nichts. Entsprechend der vermeintlichen ›Leistung‹ wurden Kalorienrationen berechnet und zugeteilt, was oberflächlich betrachtet durchaus nachvollziehbar und gerecht erschien. So konnte gesellschaftliche Akzeptanz für diese Politik der vorsätzlichen Vernachlässigung hergestellt werden. Etwa 70 000 Menschen sind während des Krieges in den Einrichtungen verhungert.
Halling sieht in diesen Auseinandersetzungen um begrenzte Ressourcen gewisse Parallelen zu den aktuellen Diskussionen um unser Gesundheitswesen.
– Um begrenzte finanzielle Mittel »sinnvoll« zu verteilen, wird versucht zu ermitteln, welcher volkswirtschaftliche »Mehrwert« erreicht werden kann. Überspitzt formuliert wird also berechnet, welche Personen oder Personengruppen für die Gesellschaft mehr wert sind und welche weniger.
Allerdings ohne, betont er ausdrücklich, »die genannten tödlichen Konsequenzen«. Das Gesundheitswesen steht auch noch auf meiner Rechercheliste, allerdings erst weiter unten. Vögele mischt sich ein. Die Berechnungen zum Wert eines Menschen seien »immer auch eine gefährliche Spielerei«, sagt er.
– Wenn Sie Behinderte als Kostenfaktor sehen, also als Belastung für die Volkswirtschaft – was ist daraus die Konsequenz?
Halling stellt eine rhetorische Frage.
– Nicht zwingend, aber unter bestimmten gesellschaftspolitischen Konstellationen kann die Forderung erhoben werden, eben diese Belastungen zu reduzieren. Wenn einer »A« sagt, kommt auch irgendwann einer, der »B« sagt. Aufgrund bestimmter Interessen können aus den Rechnungen bestimmte Schlußfolgerungen gezogen werden.
Ich muß an den Philosophen Gerhardt denken, an seine Ablehnung der »Berechnungen
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