Was bisher geschah
Sexualverbrechen. Deshalb und wegen sexuellen Missbrauchs von Bediensteten verbringt de Sade insgesamt rund 30 Jahre in Gefängnissen und der Irrenanstalt Charenton. Mit seinen Ideen über die absolute Freiheit, Schlechtigkeit und Triebgebundenheit des Menschen und mit seiner Vermischung von Realität und Fantasie fasziniert er später Charles Baudelaire, die Surrealisten sowie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die de Sade in ihrem Buch Dialektik der Aufklärung (1947) beleuchten.
Im Rückblick erscheint das 18. Jahrhundert als eine Zeit der intellektuellen und sexuellen Revolution. So wie der Eros im antiken Griechenland zwischen Erhabenem und Banalem vermittelt, gilt dies vielleicht ähnlich in einer Zeit, in der die Herrscher offiziell irgendwie noch göttlich sind, aber in ihrer Lächerlichkeit immer augenfälliger werden. So liefert der erste moderne Hofmaler, Francisco de Goya, karikaturhafte (offizielle) Porträts der spanisch-habsburgischen Königsfamilie. Mit Blick auf Die nackte Maja wird klar, wie die Erotik als Sozialventil und zur Vorführung der Scheinheiligkeit dient.
Bild 15
Jean-Baptiste Greuze: Junges Mädchen, das sein totes Vögelchen be weint, Ölgemälde, 1765
Einen Schritt weiter geht Denis Diderot. Er entlarvt die Doppelmoral seiner Zeit und demonstriert, wie man Kunst und Kunstkritik zum Mittel der Volksaufklärung macht, indem man sich in die Untiefen menschlichen Trachtens einfühlt. Dabei muss man sich der Einbildungskraft bedienen; sie ist ein Schlüsselbegriff der Zeit. Entsprechend beschreibt Diderot in seinem »Salon« von 1765, der Kritik über den Salon, die jährliche Kunstausstellung, Jean Baptiste Greuzes Gemälde Junges Mädchen, das sein totes Vögelchen beweint . Das Bild zeigt zunächst genau das, was im Titel steht. Diderot begnügt sich nun aber nicht mit der üblichen allegorischen Interpretation und moralischen Anklage, wonach das Mädchen ihrer verlorenen Unschuld nachtrauert, die ein übler Verführer geraubt hat. Er betont die Ambivalenz des Sittenbildes selbst – und des vermeintlich ehrenwerten Kunstfreundes, der das Bild betrachtet. Denn in seiner Kritik lässt Diderot einen Bildbetrachter in einem fiktiven Dialog das verführte Mädchen trösten, ihn dann aber, an einen anderen Betrachter gewandt, schließen: »Trotzdem würde es mir nicht besonders leid tun, die Ursache ihres Kummers zu sein.«
Auf kreative Weise hebt Diderot auf die damaligen Schlüsselbegriffe Empfindsamkeit, Mitgefühl, Mitleid beziehungsweise Empathie ab und führt die Ambivalenz und Scheinheiligkeit vor, die dabei mit im Spiel sein können. Auch im echten Leben herrscht ein Durcheinander ethischer und ästhetischer Kategorien. So verherrlicht Voltaire, zum Hofdichter und Hofhistoriographen ernannt, Ludwig XV. pathetisch als Kriegsherrn, kritisiert aber auch sinnlose Schlachten. In dem Artikel »Nachricht vom Tod des Chevalier de La Barre« geißelt Voltaire die Willkür der korrupten, äußerst brutalen Justiz: Er schildert den Prozess gegen den 19-jährigen Adeligen, der wegen ein paar frecher ketzerischer Sprüche und des Besitzes von Voltaires verbotenem Philosophischen Wörterbuch gefoltert, hingerichtet und verbrannt wird.
Etwas Ähnliches wird Voltaire schon deshalb kaum passieren, weil er eine Person des öffentlichen Lebens und mit insgesamt mindestens 20 000 Briefen europaweit vernetzt ist. Er wirkt an Diderots und d’Alemberts Encyclopédie von 1751 mit, der Sammlung fortschrittlichen Wissens aus Philosophie, Theologie, Kunst und Naturwissenschaften. Sie wird zur geistigen Grundlage für die Revolution von 1789. Voltaire prägt den antiklerikalen Slogan »Ecrasez l’infâme!« (»Vernichtet die Niederträchtigen!«) und wird so zum Vorläufer eines typisch französischen, medienwirksamen Engagements von Intellektuellen wie Émile Zola und Jean Paul Sartre, das allerdings gerade bei deren Nachfolgern oft der Selbstinszenierung dient. Beispielhaft zeigen sich schon bei Voltaire die Grenzen des Engagements, als er der brieflichen Einladung von Friedrich dem Großen folgt, mit ihm bei Hofe »zusammenzuleben«. Dort darf er dann Friedrichs Schreibstil korrigieren, aber als er sich in politische Fragen einmischen will, wird er abgeblockt. Immerhin steigt Voltaire, der kränkliche Held, der sich mit Kaffee aufputscht, dank königlicher Jahresgelder und Aktienspekulationen zum reichsten Literaten von Paris auf, zum Star, bei dessen Beerdigung Menschenmengen die Straßen
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