Was bisher geschah
Restauration der Bourbonen (1814), Julimonarchie (1830), Zweite Republik mit »Prince-Président« Charles Louis Napoleon (1848), Zweites Kaiserreich (1852), sozialistische Pariser Kommune (1871) und Dritte Republik (1871).
Auch kulturell treibt die Verwirrung in Paris, der »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, wie Walter Benjamin sie später nennen wird, ihre Blüten. So nutzt man den Kunst geschmack verstärkt als Möglichkeit, sich gesellschaftlich zu orientieren und zu profilieren: Kunst wird direkt mit Schichtenzugehörigkeit und Sozialstatus verknüpft und zur Einstellungs- und Glaubenssache stilisiert. In seiner Salonkritik von 1846 schreibt der Dichter Charles Baudelaire: »Um die Bedeutung eines Künstlers zu erkennen, gibt es ein einfaches Verfahren: man untersucht sein Publikum. Eugène Delacroix hat die Maler und Dichter für sich, Decamps die Maler; Horace Vernet die Garnisonen und Ary Scheffer die ästhetischen Frauenzimmer, die religiöse Musik machen, um sich für ihre bleichen Menses zu entschädigen.«
Auf historisch neuartig pubertäre Weise macht Baudelaire klar: Wer die Kunst von Delacroix mag, ist hip, wer die Salonmalerei von Ary Scheffer schätzt, langweilt. Mitte des 19. Jahrhunderts, 50 Jahre nachdem der Louvre zum öffentlichen Museum geworden ist, üben die Salons mit ihrer Bilderflut eine Faszination auf die Zuschauer aus. Und während heute eher die Mode, Automarken, der Lieblingssportverein oder der demonstrative Verzicht auf Statussymbole eine gewisse Haltung signalisieren, sind Kunst und Bildung im 19. Jahrhundert ein wichtiges Element. Wegen des Machtgewinns des Bürgertums wird es auch »das bürgerliche Jahrhundert« genannt. Der damals geprägte Begriff Bildungsbürger ist noch nicht abwertend gemeint wie in späteren Zeiten. Bürgerliche Rebellen wie Baudelaire sehen sich wiederum als soziale Joker jenseits konventioneller Klasseneinteilungen, als Dandys. Sie führen Schildkröten an der Leine spazieren, um zu zeigen, wie viel Zeit sie inmitten der banalen Geschäftigkeit haben.
Weniger bürgerlichen Statusfragen wendet sich der gebildete Industriellensohn Friedrich Engels mit Blick auf London zu, dem Ort, der als Schaltzentrale des British Empire zumindest die wirtschaftliche Hauptstadt des 19. Jahrhunderts ist. In seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) prangert Engels als einer der ersten Autoren systematisch soziale Missstände an. Bei aller Polemik, Manipulation und dem Kampfruf »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!«, die das Buch enthält, analysiert Engels die Folgen des Baumwollimports doch auf einigermaßen sachliche Weise und macht Angaben zu Hungertoten in London. Er informiert sich im armen Osten der Stadt darüber, wie »ein Mann, seine Frau, vier bis fünf Kinder und zuweilen noch Großvater und Großmutter in einem einzigen Zimmer von zehn bis zwölf Fuß im Quadrat« hausen.
Einen Schritt weiter geht Henry Mayhew, Mitbegründer des einflussreichen Satiremagazins Punch . In seinem Buch Arbeit und Armut in London , das ab 1849 zunächst als Artikelserie im Morning Chronicle erscheint, führt er Interviews mit Straßenhändlern, Müllmännern, Näherinnen, (minderjährigen) Prostituierten, Bettlern und Räubern. In seinem Bestreben, erstmals, »die Geschichte des Volkes, vom Volk selbst erzählt, zu veröffentlichen«, wird er zum Vorläufer für eine »Geschichte von unten« beziehungsweise die oral history des 20. Jahrhunderts. Wie sein Journalistenkollege Charles Dickens, der mit Werken wie Oliver Twist (1837 – 1839) den sozialen Roman begründet, nähert sich Mayhew der Perspektive der Unterprivilegierten an. Ein Straßenhändler sagt über die »tiefgründigen Tragödien« wie Hamlet : »Sie bringen die Leute zum Nachdenken, aber andererseits finden wir sie alle zu lang.«
Sport als Romantik des Volkes – und zupackende Denkerhelden
Dem Bedürfnis nach Kurzweil genügt in Großbritannien der sport : Was im Englischen ursprünglich »Zeitvertreib, Vergnügen, Spaß« heißt, wird zur Massenunterhaltung. Für alte Sportarten wie das Fechten, Rudern und Fußball gibt es nun Weltmeisterschaften. 1896 reaktiviert man die Olympischen Spiele, die der römisch-christliche Kaiser Theodosius ab 394 n. Chr. als heidnisch-kultisches Fest verboten hatte. Neu erfunden werden Volleyball, Handball und Basketball; Basketball etwa lässt der kanadische Lehrer James Naismith 1891 an einer amerikanischen Schule zunächst angeblich mit zwei
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