Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
dann nach einem ganz anderen Modell, einem ganz anderen Muster des Empfindens, Denkens und Handelns, mein Leben gestalten. Zum Beispiel nach dem Hindu-Modell:
Das Hindu-Modell
Angenommen, ich wäre als einer der fast 1,2 Milliarden Menschen in Indien geboren. Dann wäre ich mit größter Wahrscheinlichkeit ein Hindu. Ursprünglich waren »Hindus« und »Inder« dasselbe. Heute aber bezeichnet »Hinduismus« die indische Religion, zu deren verschiedenen Strömungen rund vier Fünftel aller Inder gehören. Indische Kultur, Lebensart und Vorstellungswelt sind davon bestimmt. Wenn ich Hindu wäre, würde ich ganz selbstverständlich – wie übrigens auch die indischen Reformbewegungen des Buddhismus und Jainismus – an die uralte Lehre vom Kreislauf der Wiedergeburten glauben. An einen Kreislauf in den Abläufen der Natur und in den verschiedenen Weltperioden, einen Kreislauf auch in der Wiederverkörperung des Menschen. Und ich würde bestimmt glauben, daß das moralisch richtige oder falsche »Handeln« (Sanskrit: »karma«) in meinem vorausgegangenen Leben mein jetziges Leben bestimmen würde, und mein positives oder negatives Handeln im jetzigen Leben meinen Stand im nächsten Leben. Ein zyklisches Zeit- und Geschichtsverständnis also.
Studiert hätte ich vermutlich auch die alten heiligen Schriften, den Veda (das heilige »Wissen«) und die Schriften, die sie interpretieren. Aber auch wenn nicht, wäre ich gewiß der Überzeugung, daß in allem eine »ewige Ordnung« (»Sanatana dharma«) herrscht: eine allumfassende kosmische und moralische Ordnung, die alles Leben bestimmt und an die sich alle Menschen halten sollen, unabhängig davon, in welche Klasse oder Kaste sie hineingeboren sind. Dabei wären für mich allerdings nicht definierte Dogmen und formale Rechtgläubigkeit wichtig; denn der Hinduismus kennt kein verbindliches Lehramt. Wichtig wäre vielmehr das richtige Tun: der richtige Ritus, die Sitte, die gelebte Religiosität. Und es ginge mir auch nicht in erster Linie um bestimmte Rechte des Menschen, sondern um meine Bestimmung und insofern um Pflichten und Verantwortlichkeiten, die ich gegenüber Familie, Gesellschaft, den Göttern oder Gott habe.
Möglicherweise würde ich mich in einer Religion des ewigen Dharma wohlfühlen. Warum? Weil diese Ordnung kosmisch begründet ist. Deshalb ist sie raum- und zeitübergreifend und mit oft Jahrhunderte überdauernden Riten äußerst stabil. Zugleich aber zeigt sich diese ewige Ordnung flexibel genug, um verschiedenste auch gegensätzliche religiöse Formen und Gestaltungen aufzunehmen und zu akzeptieren. Und unterschiedliche Wege zum Heil zu zeigen:
– den Weg des Tuns (»karmamarga«);
– den Weg der Erkenntnis (»jñanamarga«);
– den Weg der Hingabe (»bhaktimarga«).
Alle sind Wege der Läuterung, moralisch, spirituell, religiös.
Ich spinne den Gedanken weiter: Wie im Christentum wäre ich, falls entsprechend gebildet, auch im Hinduismus vermutlich mit manchen Riten und Lehren, Vorschriften und Praktiken unzufrieden. Ich würde zu den heutigen Hindu-Kritikern gehören. Sie prangern die akuten gesellschaftlichen Mißstände an, die alten indischen Idealen oft widersprechen. Ich hätte wohl kaum etwas übrig für die durch die »ewige Ordnung« bevorzugten sozialen Eliten, die allzugern – mit Berufung auf das kosmische Gesetz – auf ihre von jeher gegebenen Rechte und Privilegien pochen und soziales Engagement vermissen lassen. Ohne alle Neigung zum Fundamentalismus würde ich bestimmt zu den kritischen Denkern und Reformern Indiens gehören, welche das offiziell abgeschaffte, aber praktisch noch immer funktionierende Kastensystem bekämpfen und sich für eine verbesserte Stellung der Frau und der rund 150 Millionen Kastenlosen einsetzen.
Aber vielleicht hätte ich mich auch, wie viele Inder in früheren Jahrhunderten, aber auch noch im 20. Jahrhundert, gerade wegen der unüberwindbar scheinenden Kastenordnung vom Hinduismus abgewandt und dem Buddhismus zugewandt – nach dem Vorbild von B. R. Ambedkar, dem noch heute in Indien hochangesehenen ersten Justizminister des unabhängigen Indien, der 1956 eine Massenkonversion von rund einer halben Million »Unberührbarer« zum Buddhismus anführte.
Das Buddha-Modell
Wäre ich in Sri Lanka, Thailand, Burma oder Japan geboren, Länder, die ich kenne und bewundere, wäre ich wahrscheinlich einer der vielen Hundert Millionen Buddhisten auf der Welt. Ich würde dann mit Hindus
Weitere Kostenlose Bücher