Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
quer durch China und Dialogvorlesungen an der Universität Tübingen mit meiner chinesischen Kollegin und Freundin Julia Ching in den 80er Jahren zu der Einsicht gekommen: Die Unterscheidung zwischen West und Ost, Orient und Okzident ist oberflächlich. Neben den prophetischen Religionen nahöstlicher Herkunft, Judentum, Christentum und Islam, und den mystischen Religionen indischer Provenienz, vor allem Hinduismus und Buddhismus, bilden die Religionen chinesischen Ursprungs, Konfuzianismus und Daoismus, ein drittes eigenständiges und kulturhistorisch gleichwertiges religiöses Stromsystem. Ihr Prototyp ist weder der Prophet noch der Guru, sondern der Weise. Gegenüber der indischen Religion mit ihrem Mystizismus, mit überquellenden Mythologien und streng zyklisch ausgerichtetem Denken ist die chinesische Kultur von nüchterner Rationalität und historischem Denken geprägt. Die Geschichtsschreibung hat sich dort anders als in Indien schon sehr früh entwickelt.
Ich hätte mich zwar nicht mit dem (aus dem Westen stammenden) chinesischen Marxismus und Maoismus identifizieren können. Sehr wohl aber mit dem chinesischen Humanismus, der sich schon zur Zeit der griechischen Vorsokratiker im 6. Jahrhundert v. Chr. zu entwickeln beginnt. Ein Übergang von der magischen Religiosität der alten chinesischen Kultur zur Rationalität: Dem Menschen und seiner Vernunft wird der Vorrang eingeräumt vor den Geistern und Göttern. So vollzieht sich schließlich ein geistiger Aufbruch: ein großes Interesse an Geschichte, Kunst und Literatur, so daß die Gelehrten, Literaten und Intellektuellen zur obersten Gesellschaftsschicht Chinas avancieren.
Für Konfuzius oder Kung-futse, zunächst ein Lehrer unter vielen, sind weniger die traditionellen Orakelsprüche von Bedeutung als die ethischen Entscheidungen der Menschen selbst. Nicht die magischen Kräfte der Natur will er wecken, sondern die moralischen Kräfte im Menschen. Kaum sympathisch freilich wäre mir die konfuzianische Orientierung nach rückwärts, an einer besseren Vergangenheit: sein Interesse an der Wiederherstellung der ursprünglichen, von moralischen Prinzipien getragenen Gesellschaftsordnung, die auf dem Einhalten der alten »Riten«, Sitten, Verhaltensnormen beruht. Diesen allen ist freilich schon bei Konfuzius selber der »Himmel« als wirkende Macht, Ordnung, Gesetz übergeordnet, weswegen es dabei nicht nur um eine simple Morallehre geht. Den »Willen des Himmels« soll der Mensch, besonders der Herrscher, zu verstehen und zu erfüllen trachten. Tut er das nicht, verliert er die Legitimität – ein Motiv für nicht wenige chinesische Revolutionen.
Aber sehr sympathisch wäre mir zweifellos die humanistische Weisheit der Lehre des Meisters Kung. Der Mensch soll eine harmonische Beziehung zu den Menschen und zur Natur anstreben und allen Menschen im Rahmen der äußeren Verhaltensnormen Menschlichkeit (»ren«) entgegenbringen: menschliche Güte, Zuwendung, Wohlwollen. Und in diesem Sinn soll die innere Erneuerung des einzelnen Menschen wie auch der äußeren Verfassung des Staates angestrebt werden.
Das Wort, das mir ein ganzes Leben lang als Richtschnur des Handelns dienen soll, ist nach Konfuzius die Gegenseitigkeit (»shu«). Sie ist Abkürzung für die von ihm zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte formulierte Goldene Regel: »Was du selbst nicht wünschest, das tue auch nicht anderen!« Menschlichkeit könnte sehr wohl auch heute Basis sein für ein Grundethos – nicht nur in China, sondern in der Menschheit als ganzer. Menschlichkeit anstelle der allenthalben so oft praktizierten Unmenschlichkeit.
Die erst später entstandene konfuzianische Staatsreligion, die mit dem letzten Kaiser 1912 untergegangen ist, will heute freilich niemand zurückhaben. Jene permanente Dominanz der Eltern über die Kinder, der Männer über die Frauen und überhaupt eine patriarchale Gesellschaftsordnung haben keine Zukunft. Bedeutung aber haben nach wie vor die humanen Werte des Konfuzianismus: die Gemeinschaft, die vor dem einzelnen kommt, doch den einzelnen respektiert und unterstützt; die Familie als Grundbaustein der Gesellschaft; die Lösung der Probleme durch Konsens und nicht durch Konfrontation und die ethisch-religiöse Harmonie als Ideal für den einzelnen wie die Gesellschaft.
Aber so nahe der europäischen Aufklärung und auch mir persönlich dieser chinesische Humanismus steht: Ich bin nun einmal nicht im chinesischen religiösen Stromsystem und
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