Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
Kirchen auch das Christentum abschreiben. Und viele bezeugen ja nach wie vor inner- und außerhalb der Kirchen, daß sie am Christentum keineswegs verzweifelt sind; bezeugen, daß sie die Hoffnung nicht aufgegeben haben, daß Christ sein für sie nach wie vor eine große Lebensoption darstellt.
Aber dann müssen wir uns angesichts der weltlichen und kirchlichen Verfälschungen des Christentums wieder neu ehrlich fragen: Was heißt überhaupt » christlich «? Wie sollen wir heutzutage christliche Spiritualität verstehen? Wie uns als Christen verstehen? Was bedeutet Christ sein ursprünglich , eigentlich, wesentlich? Für mich als Theologen hat es Jahre gedauert, bis mir völlig deutlich wurde, daß die Grundlage christlicher Spiritualität nicht in oft unverständlichen Dogmen oder hehren Moralgeboten besteht, nicht eine große Theorie oder Weltanschauung meint, nicht ein kirchliches System ist, sondern – ja, was?
Das christliche Modell
Wie ungezählte andere Katholiken vor dem Vatikanum II bin ich aufgewachsen mit dem traditionellen Christusbild des Glaubensbekenntnisses, der hellenistischen Konzilien und byzantinischen Mosaiken: Jesus Christus als thronender »Gottessohn«, ein menschenfreundlicher »Heiland« und früher für die Jugend der »Christkönig«. Im Katechismusunterricht lernten wir dogmatische Formeln, ohne sie zu verstehen: Jesus Christus sei die »zweite Person der allerheiligsten Dreifaltigkeit«, sei »eine göttliche Person in zwei Naturen«, einer menschlichen und einer göttlichen. Darüber hörte ich dann in Rom eine ganzsemestrige Vorlesung über »Christologie«, mit all den Häresien, gegen die die Konzilien vorgegangen waren, und mit all den Antworten auf die schon damals und auch heute noch angemeldeten Schwierigkeiten. Zwar bestand ich all die nicht ganz einfachen lateinischen Examina problemlos – aber meine Spiritualität? Das war eher etwas anderes, das blieb unbefriedigt. Lange Zeit interessierte mich am meisten die geistreiche paulinische Theologie, die Evangelien kamen mir dagegen zu vertraut und eher langweilig vor. Richtig interessant wurde für mich die Christusfigur erst, als ich sie nach meinen römischen Jahren aufgrund der modernen Bibelwissenschaft als reale Gestalt der Geschichte kennenlernen durfte. Das gründliche Studium der katholischen wie evangelischen exegetischen Literatur im Zusammenhang meiner Vorlesungen, Seminare und Publikationen war angetrieben durch meine ungeheure Wißbegierde nach diesem »unbekannten Jesus«.
Denn das Wesen des Christentums ist ja nichts abstrakt Dogmatisches, ist keine allgemeine Lehre, sondern ist seit eh und je eine lebendige geschichtliche Gestalt : Jesus von Nazaret. Jahre hindurch habe ich mir so das einzigartige Profil des Nazareners aufgrund der überreichen biblischen Forschung der letzten zweihundert Jahre erarbeitet, habe alles in leidenschaftlicher Anteilnahme durchdacht, präzise begründet und systematisch dargeboten. Aufgerüttelt hat mich bei der Arbeit am Buch »Die Kirche« (1967), daß ich zwar ständig von der Kirche »Jesu Christi« sprach, aber keine genaue Antwort auf die Frage wußte, was dieser Jesus eigentlich wollte, sagte, tat. Vertieft hat sich meine Fragestellung, als ich auf eigenen Vorschlag auf dem Internationalen Theologischen Kongreß in Brüssel (1970) die elementare Frage zu beantworten versuchte: »Was ist die christliche Botschaft?« Und umfassend dargestellt habe ich Verkündigung, Verhalten und Geschick Jesu schließlich im klein geplanten, doch groß geratenen Buch »Christ sein« (1974). Alles in allem ein hochspannendes Unternehmen! In diesem Zusammenhang habe ich sogar über das ganze Markusevangelium vom ersten bis zum letzten Vers gepredigt und anschließend auch über die Bergpredigt.
Seither weiß ich, wovon ich rede, wenn ich ganz elementar sage: Das christliche Lebensmodell ist schlicht dieserJesus- von Nazaret als der Messias, Christós, Gesalbte und Gesandte. Jesus Christus ist das Fundament echter christlicher Spiritualität. Ein herausforderndes Lebensmodell für unsere Beziehung zum Mitmenschen wie auch zu Gott selbst, das für Millionen Menschen in aller Welt Orientierung und Maßstab wurde.
Wer also ist ein Christ? Nicht derjenige, der nur »Herr, Herr« sagt und einem »Fundamentalismus« huldigt – sei er biblizistisch-protestantischer, autoritär-römisch-katholischer oder traditionalistisch-östlich-orthodoxer Prägung. Christ ist vielmehr, wer auf seinem ganz
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