Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
persönlichen Lebensweg (und jeder Mensch hat einen eigenen) sich bemüht, sich an diesem Jesus Christus praktisch zu orientieren. Mehr ist nicht verlangt.
Diese echt christliche Spiritualität ist mir noch selten so deutlich geworden wie nach meinem Gottesdienst in den Slums von San Salvador in der Kirche, wo Erzbischof Oscar Romero, engagierter Verteidiger der Rechte seines Volkes, am 24. März 1980 direkt aus einem Auto heraus am Altar erschossen wurde. Dort habe ich im »Spurensuche«-Film über das Christentum auch des evangelischen Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer gedacht (von den Nazis 1945 hingerichtet), des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King (1968 erschossen) und des polnischen Priesters Jerzy Popieluszko (vom polnischen Staatssicherheitsdienst 1984 ermordet). Allesamt haben sie der Welt und mir gezeigt, daß eine solche Spiritualität sich sogar bis in den gewaltsamen Tod hinein durchhalten läßt.
Auch mein eigenes und so manches andere weniger dramatische Leben mit seinen Höhen und Tiefen und auch meine Kirchenloyalität und Kirchenkritik kann man nur von daher verstehen. Gerade meine Kirchenkritik kommt zutiefst aus dem Leiden an der Diskrepanz zwischen dem, was dieser geschichtliche Jesus war, verkündete, lebte, erkämpfte, erlitt, und dem, was heute die institutionelle Kirche mit ihrer Hierarchie repräsentiert. Diese Diskrepanz ist oft unerträglich groß geworden. Jesus beim Pontifikalamt im Petersdom? Oder im Gebet mit Präsident George W. Bush und dem Papst im Weißen Haus? Nicht auszudenken. Mit Dostojewskis Großinquisitor würde man ihn wohl fragen: »Warum kommst du, uns zu stören?«
Am allerdringendsten und befreiendsten für unsere christliche Spiritualität ist es folglich, uns für unser Christsein theologisch wie praktisch nicht so sehr an traditionellen dogmatischen Formulierungen und kirchlichen Reglementierungen zu orientieren, sondern wieder mehr an der einzigartigen Gestalt, die dem Christentum seinen Namen gegeben hat. Sie kann gewiß nur über den »garstigen Graben der Geschichte« (Lessing) erkannt werden, aber gerade so kann sie immer wieder in einem neuen Kontext gesehen werden.
Maßstab für diese Orientierung darf aber nicht ein erträumter, sondern nur der wirkliche, geschichtliche Christus sein. Ihn können wir aus dem Neuen Testament trotz mancher Legenden und unhistorischer Weiterführungen durchaus erkennen.
Ein einzigartiges Leben
Ich kann hier die Geschichte Jesu von Nazaret nicht erzählen; ich habe sie ausführlich erforscht und dargelegt. Über viele Details in den allesamt von Menschen erst im Kontext der ersten christlichen Gemeinden verfaßten neutestamentlichen Zeugnissen kann man gewiß streiten, insbesondere darüber, was authentisches Jesus-Wort ist und was nicht.
Doch aufs Ganze gesehen tritt Jesu Profil im Neuen Testament ganz und gar unverwechselbar hervor. Ich habe die großen Leitfiguren auch der anderen Weltreligionen studiert und jeder ein einfühlsames Portrait gewidmet; denn jede hat und ist ihre eigene Größe, die zumindest den Respekt auch der Andersgläubigen oder Ungläubigen verdient. Es war mir deshalb unbegreiflich, wie im Jahr 2006 ein sensationslüsterner Opernregisseur in Berlin die großartige Mozartoper »Idomeneo« mißbrauchen konnte, um am Schluß ohne jeden Anhalt in Text oder Musik die abgeschlagenen Köpfe der Religionsstifter zu präsentieren, und wie er dafür auch noch Beifall mancher einfältiger Politiker und Publizisten erhielt. Ebensowenig war mir begreiflich, wie man einen Karikaturisten und eine Zeitung loben konnte, die im selben Jahr 2006 aus kommerziellen und populistischen Gründen verleumderische Karikaturen des Propheten Muhammad publizierte, als ob die Pressefreiheit nicht auch für dänische Politiker Presseverantwortung einschlösse. Angehörige anderer Religionen wundern sich oft, wie weit man es im früher einmal christlichen Europa gebracht hat, in dem heute nichts Heiliges mehr heilig zu sein scheint.
Leben, Lehren und Wirken Jesu von Nazaret treten für mich im Vergleich mit anderen Religionsstiftern deutlich hervor. Jesus war kein am Hof Gebildeter wie anscheinend Mose, war kein Fürstensohn wie der Buddha. Aber er war auch kein Gelehrter und Politiker wie Kung-futse und kein reicher und weltläufiger Kaufmann wie Muhammad. Gerade weil seine Herkunft so unbedeutend war, ist seine bleibende Bedeutsamkeit so erstaunlich. Er vertritt keine unbedingte Geltung des immer mehr
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