Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
läßt.
Für mich und ungezählte andere alles in allem eine erfreuliche, befreiende Spiritualität der Gewaltlosigkeit, der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und des Friedens. Sogar eine Spiritualität der Freude, die nicht unnötige moralische Lasten auf die Schultern der Menschen legt. Eine Spiritualität, die zusammenführt und nicht spaltet. Aber eine Spiritualität, die ihren Preis hat. […]
Das muslimische Modell
Aus der ursprünglich einfachen christlichen Botschaft war im Laufe eines halben Jahrtausends eine höchst komplexe griechisch-hellenistische Dogmatik im Rahmen eines staatskirchlichen byzantinischen Systems geworden – mit nicht wenigen »häretischen« Abspaltungen. Nichts, was die Wüstenbewohner, die Beduinen und Handelsleute der arabischen Halbinsel so leicht angezogen hätte. Es brauchte schon einen von Judentum und Judenchristentum beeinflußten arabischen Propheten, um diese polytheistischen Stämme vom Glauben an den einen Gott und von der Notwendigkeit sozialer Gerechtigkeit zu überzeugen.
Sieben Jahrhunderte nach Christus entwickelte sich so überraschenderweise – und zwar mit ungeheurer Geschwindigkeit – eine neue, die neueste Weltreligion: der Islam. Und wenn ich irgendwo in dem »grünen Gürtel« zwischen Marokko und Indonesien, zentralasiatischem Usbekistan und afrikanischem Mosambik geboren wäre, so wäre ich wohl einer der 1,3 Milliarden Muslime in der Gefolgschaft des Propheten Muhammad.
Als Muslim würde ich mit Juden und Christen an den einen und einzigen Gott Abrahams, den gnädigen und barmherzigen Schöpfer, Bewahrer und Vollender aller Menschen glauben. Aber während für das jüdische Lebensmodell Israel als Gottes Volk und Land zentral ist und für die Christen Jesus Christus als Gottes Messias und Sohn, so wäre es für mich als Muslim der Koran als Gottes Wort und Buch .
Ich hätte wohl wenig Schwierigkeiten, den Koran als ursprünglich arabisches, aber zugleich für Muslime auf der ganzen Welt lebendiges und heiliges Buch anzunehmen. Allerdings hätte ich wie manche Muslime auch schon früherer Jahrhunderte Schwierigkeiten, im Koran ein wortwörtlich geoffenbartes, quasi von Gott diktiertes Buch zu verstehen. Und ich würde wohl fragen, ob der Koran als Wort Gottes nicht doch auch Wort des Menschen, Wort des Propheten Muhammad sei. Auch so könnte ja der Koran für mich Wahrheit, Weg und Leben offenbaren.
Der Koran ist die Basis für das muslimische Lebensmodell : für Recht, Riten und Theologie, die Inspiration für die gesamte islamische Kunst und Kultur. Dazu gehören die fünf Grundpfeiler des Islam: neben dem Glaubensbekenntnis zum einen Gott und seinem Gesandten Muhammad das tägliche Pflichtgebet, die Armen- oder Sozialabgabe, der Fastenmonat Ramadan und einmal im Leben die Wallfahrt nach Mekka.
Als Muslim würde ich aus dem Koran zweifellos eine ganz große Hochachtung vor Jesus lernen: Er ist einer der drei Gesandten Gottes, die vor Muhammad eine Offenbarung erhalten haben: wie Mose die Tora und David die Psalmen, so Jesus das Evangelium. Er darf Messias und Wort Gottes genannt und seine Wundertaten können anerkannt werden. Andererseits hätte ich als Muslim Schwierigkeiten anzuerkennen, was in den Evangelien und in den Briefen des Apostels Paulus übereinstimmend und eindeutig bezeugt ist, nämlich Jesu Kreuzestod. Für den Koran erscheint ein solcher Tod allzu schmählich für einen so großen Propheten. Daher sagt der Koran: Ein anderer sei an Jesu Stelle gekreuzigt worden, Jesus aber sei direkt zu Gott erhöht worden.
Jesu Erhöhung zu Gott könnte ich als Muslim also nachdrücklich bejahen. Mit dem Christusverständnis der Judenchristen, wie es der Prophet Muhammad offensichtlich noch kannte, könnte ich mich wohl relativ leicht identifizieren. Angenommen, die Judenchristenheit, aus der ja das Christentum herausgewachsen ist, wäre auf dem ersten ökumenischen Konzil von Nikaia im 4. Jahrhundert bei der Festlegung des Glaubensbekenntnisses repräsentiert gewesen: Sicher hätten sie einige hellenistische Formeln, wie später auch der Prophet Muhammad, nicht akzeptiert. »Eines Wesens mit dem Vater (›homo-ousios‹)« – diese vom Kaiser eingebrachte christologische Formel hätte wohl kein Judenchrist unterschrieben, wie sie bis heute auch kein Muslim und kein Jude akzeptieren kann.
Einwände also hätte ich wie jeder Muslim und Jude gegen eine Erhöhung von Jesus zu Gott, die ihn, der der Sohn Gottes ist, einfach zum Gott
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