Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
ausgebauten geschriebenen Gesetzes (Mose), keinen mönchischen Rückzug in asketische Versenkung innerhalb der geregelten Gemeinschaft eines Ordens (Buddha), keine Erneuerung der traditionellen Moral und der etablierten Gesellschaft gemäß einem ewigen Weltgesetz (Kung-futse), keine gewaltsamen revolutionären Eroberungen durch Kampf gegen die Ungläubigen und Errichtung eines theokratischen Staates (Muhammad).
Auch im zeitgeschichtlichen Koordinatenkreuz erscheint mir Jesus unverwechselbar. Er läßt sich weder bei den Herrschenden noch bei den Rebellierenden einordnen, weder bei den Moralisierenden noch bei den Stillen im Land. Er erweist sich als provozierend – aber nach rechts und links. Von keiner Partei gedeckt, ist er herausfordernd nach allen Seiten: »Der Mann, der alle Schemen sprengt« (Eduard Schweizer). Er ist kein Priester, aber Gott anscheinend näher als die Priester. Er ist kein politischer oder sozialer Revolutionär, aber erscheint revolutionärer als die Revolutionäre. Er ist kein Mönch, doch erscheint er der Welt gegenüber freier als die Asketen. Er ist kein Moralkasuist, aber ist moralischer als die Moralisten. Immer neu zeigen die Evangelien: Jesus ist anders! Bei allen Parallelen im einzelnen erweist sich der geschichtliche Jesus von Nazaret als im Ganzen völlig unverwechselbar – damals wie heute.
Für unsere Lebenspraxis ist das Entscheidende der Botschaft Jesu vom Reich und Willen Gottes völlig eindeutig: Es ist in Sprüchen, Gleichnissen und entsprechenden Taten eine frohe, erfreuliche Botschaft von einer neuen Freiheit. Dies bedeutet für mich hier und heute:
– sich gerade in Zeiten von Börsenfieber und Shareholder-Value nicht beherrschen zu lassen von der Gier nach Geld und Prestige,
– sich gerade in Zeiten einer neu aufgelebten imperialistischen Politik nicht beeindrucken zu lassen vom Willen zur Macht,
– sich gerade in Zeiten einer beispiellosen Enttabuisierung und eines hemmungslosen Konsumismus nicht versklaven zu lassen vom Trieb zum Sex und der Sucht nach Genuß und Vergnügen,
– sich gerade in Zeiten, da allein Leistung den Wert des Menschen auszumachen scheint, für die Menschenwürde der Schwachen, »Unproduktiven« und Armen einzusetzen.
Es geht um eine neue Freiheit : Frei werden von der größeren Wirklichkeit Gottes her, die nicht nur mich, sondern alle Menschen umfängt und durchdringt und die Jesus mit dem Namen »Vater« bezeichnet. Und von Gott her und letztlich ihm allein verpflichtet, werden wir frei für die Menschen. Ich brauche dabei nicht zum Asketen zu werden; auch Jesus hat bekanntlich Wein getrunken und an Gastmählern teilgenommen. Aber ich soll auch nicht in einem egoistischen Lebensstil nur meine eigenen Interessen pflegen und Bedürfnisse befriedigen. Vielmehr gilt es, im Alltag das Wohl des Nächsten, der uns gerade braucht, im Auge zu behalten. Und dies heißt: ihn nicht beherrschen wollen, sondern ihm, soviel wir eben können, zu dienen versuchen. Und in allem Güte praktizieren und wo nötig Verzeihen und Verzichten üben. Ich gebe zu: eine stets neue Herausforderung – auch für mich persönlich in einem langen Leben.
Für Jesus selber ist das Einhalten von elementaren Geboten der Menschlichkeit sozusagen selbstverständlich. Gottes Gebote halten heißt auch für ihn: nicht morden, nicht lügen, nicht stehlen, nicht Sexualität mißbrauchen. Darin stimmt er mit den sittlichen Forderungen der anderen Religionsstifter überein – Grundlage für ein Weltethos. Aber zugleich radikalisiert er sie. In der Bergpredigt geht er weit über sie hinaus: statt nur die pflichtmäßige »eine Meile« mitzugehen, solle man gegebenenfalls »zwei Meilen« mitgehen: Dies allerdings nicht als allgemeines Gesetz verstanden, das gar nicht zu erfüllen wäre; das wäre unrealistisch, wie viele jüdische Kritiker zu Recht geltend machen. Jesu »Forderungen« sind Einladung, Herausforderungen, von Fall zu Fall ein großzügiges Engagement für den Mitmenschen zu wagen, ganz nach dem Beispiel des (für Juden häretischen) Samariters angesichts des Fremden, der unter die Räuber gefallen war. Im konkreten Leben also eine kreative Liebe üben, die von keinem Gesetz gefordert werden kann. »Liebe«: ein Wort, das Jesus kaum gebraucht, die aber praktisch seine – ebenso universale wie radikale – Spitzenforderung ist: eine Liebe ohne Sentimentalität, die jeden, selbst den Gegner, respektiert und den Feind nicht ewig Feind sein
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