Was bleibt: Kerngedanken (German Edition)
»Letztverbindlichkeit« scheinen sie keine allgemein einleuchtende unbedingte Verbindlichkeit aufzuweisen. Warum schon soll ich unbedingt, und warum soll gerade ich? Wer auf ein transzendentes Prinzip verzichten will, muß einen weiten Weg horizontaler Kommunikation gehen, um am Ende möglicherweise festzustellen, er sei nur im Kreis herum gegangen.
Und was die konkrete Lebenserfahrung betrifft: Philosophische Modelle versagen leicht gerade dort, wo von Menschen im konkreten Fall – und gar so selten ist dies ja nicht – ein Handeln gefordert ist, das keineswegs seinem Nutzen, dem Lebensglück oder der Kommunikation dient, das von ihm vielmehr ein Handeln gegen seine Interessen, ein »Opfer«, im äußersten Fall sogar einmal das Opfer seines Lebens verlangen kann? Philosophie ist mit dem »Appell an die Vernunft« rasch am Ende, wo ethische Selbstverpflichtung existentiell »weh« tut: Wie kann man das ausgerechnet von mir verlangen? Ja, es gibt eine Frage, auf die selbst Sigmund Freud, für seine Ethik auf Vernunft schwörend, keine Antwort wußte: »Wenn ich mich frage, warum ich immer gestrebt habe, ehrlich, für den anderen schonungsbereit und womöglich gütig zu sein, und warum ich es nicht aufgegeben, als ich merkte, daß man dadurch zu Schaden kommt, zum Amboß wird, weil die anderen brutal und unverläßlich sind, dann weiß ich allerdings keine Antwort.« Ob man also mit der reinen Vernunft jeglicher Gefahr geistiger Heimatlosigkeit und sittlicher Beliebigkeit begegnen kann? Natürlich helfen sich angesichts ausbleibender Hilfe von Seiten der Naturwissenschaften, der Technologie und auch der Philosophie viele Menschen auf ihre je eigene Weise: Das für astronomisch Informierte unbegreifliche Interesse vieler Zeitgenossen an Horoskopen entspringt ebenso diesem Bedürfnis nach Grundorientierung für zukünftige wichtige Entscheidungen wie der weitverbreitete Drang nach aller Art von mehr oder weniger seriösen psychologischen »Lebenshilfen«.
Aber es geht ja, wie wir sehen, nicht nur um die privaten, persönlichen Entscheidungen: Die großen ökonomisch-technologischen Probleme unserer Zeit sind immer mehr zu politisch-moralischen Problemen geworden (was man auch im Club of Rome eingesehen hat), und diese übersteigen und überfordern auch jegliche Psychologie, Soziologie und vielleicht auch Philosophie. Wer kann uns heute, wo wir mehr können, als wir dürfen, sagen, was wir tun sollen? Vielleicht die Religionen, vielgelobt, vielgeschmäht? Die Religionen, deren Existenzberechtigung philosophisch grundsätzlich in Frage gestellt wird? […]
Kann menschlich Bedingtes unbedingt verpflichten?
Wir halten daran fest: Auch der Mensch ohne Religion kann ein echt menschliches, also humanes und in diesem Sinn moralisches Leben führen; eben dies ist Ausdruck der innerweltlichen Autonomie des Menschen. Doch eines kann der Mensch ohne Religion nicht, selbst wenn er faktisch für sich unbedingte sittliche Normen annehmen sollte: die Unbedingtheit und Universalität ethischer Verpflichtung begründen . Ungewiß bleibt: Warum soll ich unbedingt, also in jedem Fall und überall, solche Normen befolgen – selbst da, wo sie meinen Interessen völlig zuwiderlaufen? Und warum sollen dies alle tun? Denn was ist ein Ethos letzthin wert, wenn es nicht alle tun? Was ist ein Ethos letzthin wert, wenn es nicht ohne alles Wenn und Aber gilt: bedingungslos, nicht »hypothetisch«, sondern »kategorisch« (Kant)?
Aus den endlichen Bedingtheiten des menschlichen Daseins, aus menschlichen Dringlichkeiten und Notwendigkeiten läßt sich nun einmal ein unbedingter Anspruch, ein »kategorisches« Sollen nicht ableiten. Und auch eine verselbständigte abstrakte »Menschennatur« oder »Menscheidee« (als Begründungsinstanz) dürfte kaum zu irgend etwas unbedingt verpflichten. Selbst eine »Überlebenspflicht der Menschheit« ist rational kaum schlüssig zu erweisen. Zu Recht stellt Hans Jonas angesichts des apokalyptischen Potentials der Atom- oder Gentechnik die metaphysische Frage, mit der die Ethik bisher nicht konfrontiert war: Ob und warum es denn eine Menschheit geben, ihr genetisches Erbe respektiert werden, ja warum es überhaupt Leben geben soll? Mit Vernunftgründen ließe sich wohl ebenso begründen, daß die Menschheit, wie sie sich nun faktisch entwickelt hat, keine Zukunft hat, sondern aus moralischen Gründen reif zum Untergang ist (und wer weiß, was Adolf Hitler am Ende noch alles getan hätte, wenn ihm nicht nur
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