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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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auch dabei, wenn auch nicht das eigene. Nicht immer das eigene.
    Jetzt wußte ich wieder, was ich damals plötzlich begriff: Sie hatten ihn in der Hand. Und ich erinnerte mich, daß mein Hochmut – darin mochte er recht haben, begabter Psychologe, der er war – mich hinriß, ihn leise zu fragen: Warum steigst du nicht aus. Und wie er weiß wurde wie die Wand, die Augen aufriß, sein Gesicht dem meinen nah brachte, daß ich seinen Bieratem roch, und deutlich und stocknüchtern drei Worte sagte. Ich – habe – Angst. Gleich danach spielte er wieder den Betrunkenen, ich stand auf, klopfte auf den Tisch und ging. Danach habe ich Jürgen M. jahrelang nicht gesehen, habe die Szene vergessen, die er niemals vergessen wird, und nun muß er mich nicht mehr kennen, sitzt in dem Haus mit den vielen Telefonen und sammelt nach Herzenslust alle Nachrichtenüber mich, die kein anderer bekommen könnte, und dankt jeden Morgen seinem Schicksal, das ihn an diesen Platz gestellt hat, an dem er seinem leidenschaftlichen Gelüst Genüge tun und zugleich der Gesellschaft nützlich sein kann.
    Wie ich selbst, auf meinem Platz.
    Blind lief ich über die Weidendammer Brücke, auf der anderen Seite und in entgegengesetzter Richtung, und mußte an die Aktendeckel denken, in denen doch sicherlich all die Nachrichten über mich gehortet wurden. Dazu aber mußten sie zuvor ausgewählt, formuliert, womöglich einer Sekretärin diktiert werden. Oder wie hatte man sich das vorzustellen. Hatte ich mir vorzustellen, daß Jürgen M. morgens pünktlich um acht sein Büro betrat und als erstes – diese kleine Eitelkeit gestattete ich meiner Phantasie – nach einem dünnen Aktendeckel mit meinem Namen griff. Darin also der Bericht vom Vortag, Jürgen M. konzentrierte sich genußvoll. Aha. Gestern – das war heute – hatte sie um neun Uhr fünfundvierzig ein Telefonat geführt. Anrufer: Folgte der Name meines Freundes. Folgte die Mitschrift unseres Gesprächs, über die Jürgen M., der sich jetzt sicherlich Humor leisten konnte, schmunzeln würde. Auch Geringschätzung würde er sich leisten. »Codewort«, »Kaffee«, »Tee« – ach ihr armen Laien! Jürgen M. war Fachmann, wenn ich ihn mir richtig vorstellte, und intelligent, wie er auch war, mußte ihn doch eines schönen Morgensbei der Lektüre des zweihundertsiebenunddreißigsten Tagesberichts seiner Gewährsleute unvermeidlich das Grauen packen ob der Vergeblichkeit seines Tuns, denn wenn er in all den Aktendeckeln blätterte, hier eine Zeile las, dort ein Stenogramm, da ein Gesprächsprotokoll, und wenn er sich dann fragte, was er über dieses Objekt jetzt wußte, was er vorher nicht gewußt hatte, so mußte er sich ehrlicherweise sagen: nichts. Und wenn er sich weiter fragen würde, was er erreicht hatte, würde er sich abermals sagen müssen: nichts.
    Das aber wußte ich besser. Viel hatte er erreicht, der Gute, ziemlich viel, aber er konnte nicht wissen, was, denn das haben seine Spitzel nicht gehört, seine Tonbänder nicht aufgezeichnet, es ist aus zu feinem Stoff, es entschlüpft ihnen, auch das dichteste Netz fängt es nicht ein, und wenn ich mich nun selber fragte, was dieses geheimnisvolle »Es« denn eigentlich war, so hatte ich keinen Namen dafür, unzufrieden mit mir und ohne billigen zu können, was ich jetzt vorhatte, ging ich über den Parkplatz, steuerte auf das flaschengrüne Auto zu (sie standen noch da, was hatte ich denn gedacht?), es war elf Uhr fünfzehn, ich strich ganz nahe am Auto vorbei und ertappte die drei jungen Herren just beim Frühstück. Der hinterm Lenkrad saß, hatte seine Brotbüchse auf den Knien, der neben ihm biß in einen Apfel, und der hinten im Fond trank hingegeben aus einer Bitterlemon-Flasche. Er verschluckte sichnicht, als mein Gesicht vor ihm erschien, ungerührt trank er weiter, aber alle drei bekamen sie wie auf Kommando diesen gläsernen Blick. Mag sein, sagte ich mir, während ich anstandshalber quer über den Parkplatz zum Briefkasten ging, als hätte ich irgendwelche Postsachen einzuwerfen, und es sogar so weit trieb, die Geste des Einwerfens vorzutäuschen – mag ja sein, sie lernen diesen gläsernen Blick auf ihrer Schule. Außer Gesellschaftswissenschaften müssen sie doch auch irgendwelche praktischen Fertigkeiten lernen. Mag doch sein, im zweiten Ausbildungsjahr steht wöchentlich einmal auf dem Stundenplan: Training des gläsernen Blicks.
    Und wenn es gar nicht Jürgen M. ist, sondern jemand anderes?
    Die Stimme kannte ich. Schön

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