Was Bleibt
konnte mein Sohn sein. Ich glaubte vorherzusehen, was auf ihn wartete. Sie rannten ins Messer. Die jungen Herren, die vor meiner Tür standen – in die seine würden sie ohne weiteres eintreten. Dies war der Unterschied zwischen uns beiden – ein entscheidender Unterschied. Ein Graben. Mußte ich rüberspringen?
Jetzt kämen wir endlich an die richtigen Fragen,teilte mir die bewußte Stimme mit. Man erkenne sie daran, daß sie einem außer Schmerz auch eine gewisse Befriedigung bereiteten.
Meister Neunmalklug wußte wieder mal alles besser.
Gebe es nicht Tage, an denen ich süchtig auf diese Fragen sei?
Na und? Ein solcher Tag sei heute jedenfalls nicht.
Auch darüber behauptete mein Partner unterrichtet zu sein. Es sei wohl eher einer meiner schwächeren Tage. Ich verbat mir die Einmischung. – Okay, okay. Er sei ja schließlich nicht als Richter über mich eingesetzt. – Sondern? – Als Begleiter, lautete der lakonische Bescheid, den ich nur sarkastisch kommentieren konnte: als persönlicher Begleiter. Die Anspielung ließ ihn kalt. Aufgebracht wollte ich wissen, wer ihn denn eingesetzt habe, und er antwortete ungerührt: Du selbst, Schwester. Wenn du dich bitte erinnern willst.
Ich selbst. Über die zwei Worte kam ich lange nicht hinweg. Ich selbst. Wer war das. Welches der multiplen Wesen, aus denen »ich selbst« mich zusammensetzte. Das, das sich kennen wollte? Das, das sich schonen wollte? Oder jenes dritte, das immer noch versucht war, nach derselben Pfeife zu tanzen wie die jungen Herren da draußen vor meiner Tür? He, Freundchen: Mit welchem von den dreien hältst du es? Da schwieg mein Begleiter, verstimmt,aber hilfreich. Das wars, was ich brauchte: glauben zu können, daß ich jenen Dritten eines nahen Tages ganz und gar von mir abgelöst und aus mir hinausgestoßen haben würde; daß ich das wirklich wollte; und daß ich, auf Dauer gesehen, eher diese jungen Herren da draußen aushalten würde als den Dritten in mir.
Woran mochte es liegen, daß seit einiger Zeit eine jede Wahl, vor die ich mich gestellt sah, nur eine Wahl zwischen schlimm und schlimmer war? Lernte man einfach schärfer sehen mit den jungen Herren vor der Tür?
Ablenkungsmanöver. Ich hatte jetzt endlich den zweiten Brief zu öffnen, der von einem meiner nächsten Freunde kam. Der, nach den Einflüsterungen eines anderen Freundes, seit langem ein fester Mitarbeiter der anderen und auf mich angesetzt sein sollte. Falls das stimmte, hätten die sich ihre Post-und Telefonüberwachung, ihre eingebauten Mikrophone und die jungen Herren vor unseren Fenstern sparen können: Dieser Freund würde sie alle an Effektivität überbieten. Jürgen M. könnte alle anderen Protokolle und Tonbänder in den Papierkorb werfen und brauchte nur die Berichte meines Freundes abzuheften. Nicht daß die mir im Sinne der Behörde gefährlich werden konnten. In einem tieferen Sinn allerdings hätte es kaum etwas Gefährlicheres für mich geben können. Gewiß: Jürgen M. könnte sich an meinen innersten Gedanken delektieren;vor allem aber wäre dann kein Verlaß auf irgendeinen Menschen, und der Zug zur dunklen Seite des Lebens hin, den ich wieder stark spürte, würde stärker werden, vielleicht allzu verführerisch, vielleicht unwiderstehlich, und »Leben« würde das, wohin es mich zog, nicht mehr heißen. Wie aber hieß das, was nicht mehr Leben war?
Nein. Ich wollte den Brief jetzt noch nicht lesen.
Also nun mal langsam. Eins nach dem anderen. Und keine Hektik.
Stehn sie noch da?
Sie stehen da, und sie werden auch heute stehenbleiben, das weißt du ganz genau.
Und wozu haben die das nötig. Wenn er ihnen doch alles sagt?
Also nun hör mal zu. Trotz kann ja was Schönes sein, aber ein kühler Kopf wäre besser. Gut: Nehmen wir unseren Freund. Nehmen wir an, er müßte ihnen zu Willen sein.
Müßte?
Müßte! Dein verdammter Hochmut immer! Was sollte er also machen? Uns sein Herz ausschütten? Damit wir niemals wieder ein unbefangenes Wort mit ihm reden können?
Was sonst?
Heilige Einfalt! Zum Beispiel: seinen Auftrag zum Schein erfüllen. Nichts liefern, was sie nicht sowieso wissen. Ihnen keine Handhabe geben, weder gegen dich noch gegen sich selbst. Auf dem Seil tanzen.
Artisten, redete ich kummervoll in mir mit mir, Artisten wir alle. Doch will ich ihn dann nicht zum Freund haben.
Du bist und bleibst ein Luxusgeschöpf. Was denkst du übrigens, auf welche Weise und mit wessen Hilfe er von denen loskommen könnte.
Doch wohl nicht
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