Was danach geschah
Nazigeschichte zu verraten, die er während der langen Jahre von Tante Aminas Gefängnisaufenthalt vorsichtig und ergeben ausgrub. Nur die Sehnsucht nach und der Einfluss von Gerechtigkeit, dieser berauschendsten und gefährlichsten aller Drogen, konnte Otto Bowles dazu bringen, den Massenmord an 360 000 Juden in Kulmhof, 250 000 in Sobibor, 600 000 in Belzec, 360 000 in Majdanek, 700 000 in Treblinka und 1 100 000 in Auschwitz zu leugnen, als wären Leben und Tod nur eine Frage der Verschiebung von Launen und Vorlieben. So kam es, dass Otto Bowles in Sam Mansours »Dokumentarfilm« – sofern er auch nur annähernd als ein solcher und nicht als die bloße Verbreitung von Lügen bezeichnet werden konnte – genau das sah, was er sehen wollte: die Erfüllung seines Traumes, in dem der Ruf seiner Familie rehabilitiert wurde.
Bo hatte gewartet, bis das Interview mit Harlan Hurley gesendet war, um mir zu erzählen, dass er die Abende an den Wochenenden, an denen er angeblich im Sender Bereitschaftsdienst hatte, vor dem Gelände der Elf im Wald in einem gemieteten Transporter gesessen und, in der Hand sein Telefon, auf dem Schoß die Schrotflinten meines Großvaters, darauf gewartet hatte, dass Bobby Wilson, sein Produzent, mit diesem Video lebendig herauskam – und auch bereit gewesen war, Bobby bei Bedarf herauszuholen. Ich rang ihm das Versprechen ab, nie wieder so etwas Dummes zu tun.
Zur Belohnung für ihren Ermittlungserfolg und das Risiko, das sie auf sich genommen hatten, wurde Bobby zum Produktionsleiter befördert, und Bo erhielt das Angebot, die Morgennachrichten und später, mit etwas mehr redaktioneller Erfahrung, auch die Mittags- und schließlich Fünfuhrnachrichten moderieren zu dürfen. Wir waren begeistert. Menschen im Supermarkt und im Einkaufszentrum baten Bo um Autogramme. Plötzlich war ich die Frau einer lokalen Berühmtheit. Wir hatten eine glückliche Zeit: Die Kanzlei, in der ich arbeitete, wuchs, unsere Tochter entwickelte sich prächtig, und Bos Traum, Nachrichtensprecher bei einem größeren Sender zu werden, wurde immer greifbarer.
Während der Wirren um Hurleys Verhaftung und Sam Mansours Flucht war Otto so geistesgegenwärtig gewesen, die Sicherheitsrechner, Verschlüsselungscodes und Passwörter der Elf an einem sicheren Ort zu verwahren. Die Idee, Sarah und mich zu entführen, um die Fernsehsender zur Ausstrahlung des Dokumentarfilms zu zwingen, kam später. Ihm muss zugutegehalten werden, dass er nie vorgehabt hatte, uns etwas anzutun. Das war Tim Shellys Idee gewesen.
38
Das Gebäude im Wald, zu dem Otto Bowles und Tim Shelly mich und Sarah an jenem Freitagabend im Oktober 1994 gebracht hatten, war das ursprüngliche Pilzzuchthaus auf der alten Shelly-Farm in der Nähe von Kennett Square. Es war von Tims Urgroßvater, Clifton Shelly, in den 1930er Jahren gebaut worden, als die meisten Pilze noch wild gesammelt worden waren und die kommerzielle Pilzzucht in den Kinderschuhen steckte.
Wie sein Vater und Großvater vor ihm, war Clifton Shelly Milchbauer gewesen. Doch er hatte mit der Pilzzucht herumexperimentiert, als er erkannte, dass der Bedarf nach essbaren Pilzen weit über dem lag, den die geübten Pilzsammler decken konnten, die in den feuchten Wäldern die schattigen Plätze unter Bäumen nach ihnen absuchten. Um diese Bedingungen nachzubilden und zu beaufsichtigen, baute er am Fuß einer verlassenen Schlucht, vor neugierigen Blicken geschützt und in der Nähe eines Teichs gelegen, ein fensterloses Haus. Der Teich lieferte ausreichend Wasser, und das Eis aus dem Winter nutzte er, um im Sommer das Pilzhaus kühl zu halten. Bald wurde er durch reiche Ernten gesegnet, die er auf dem Markt verkaufte. Menge und Beschaffenheit der Pilze versetzten die anderen Händler und Pilzsammler in Staunen. Als sich die Verfahren der Pilzzucht verbesserten und die Gewinne stiegen, ersetzte er seine Melkstände und Kornspeicher durch Pilzzuchthäuser und überließ das ursprüngliche Gebäude am Fuß der Schlucht seinem Schicksal, weil es für die Produktion in großem Stil zu klein und zu abgelegen war.
Tim Shelly ging davon aus, dass wahrscheinlich niemand von dem alten Gebäude wusste, vor allem nicht das große Agrarunternehmen mit Sitz in Kalifornien, das die Pilzzucht seiner Familie nach dem Tod seines Vaters bei einer Auktion ersteigert hatte. Es lag, tief im Wald versteckt, weit entfernt von den anderen Gebäuden und war mittlerweile von Gebüsch umgeben. Tim hatte Otto vorgeschlagen,
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