Was danach geschah
zweimal am Tag üben und könnten innerhalb von dreißig Sekunden lautlos unter den sorgsam wieder verlegten Bodendielen verschwinden. Sie kamen und gingen durch diesen Tunnel, kochten meistens nachts, um wegen des Rauchs tagsüber keinen Verdacht zu erregen, und verrichteten ihre Notdurft weit von der Hütte entfernt, damit nichts, auch keine Gerüche, darauf hindeutete, dass hier jemand wohnte. Sie führten ein schäbiges und erniedrigendes Leben. Sie taten mir leid, doch ihre Vorsichtsmaßnahmen erwiesen sich als unnötig. Ihr Leben ähnelte dem tropischer Fische, die zwischen todbringenden Seeanemonen lebten, allein weil sie die Kühnheit besaßen, sich auf dem Grundstück eines Offiziers der Waffen-SS zu verstecken, zu der mein Onkel gehörte.
Als Katharina ihren Eltern von Helmuts Tod erzählte, weinten sie und versprachen, Schiwa für ihn zu sitzen, das jüdische Trauerritual, wie sie mir erklärten. In meiner Jugend und Unwissenheit bekam ich Panik. Ich wollte nicht, dass sie Gott mit ihren jüdischen Gebeten verwirrten und er Helmut aus Versehen in ihren jüdischen Himmel schickte. So höflich, wie ich konnte, bat ich sie, dies nicht zu tun. Als sie weiterhin darauf bestanden, wurde ich wütend. Ich hatte ihnen unter großer persönlicher Gefahr geholfen und wollte auf keinen Fall, dass sie sich in diese Angelegenheit einmischten. Meine Trauer um meinen Bruder und mein Hass gegen die unsichtbaren Mörder hatten endlich ein Ventil gefunden – ich schrie die Schriebergs an, um deutlich zu machen, von wem ihr Überleben abhing.
»Sprechen Sie keine jüdischen Gebete für meinen Bruder!« Alles wurde still. Katharina blickte auf den Boden und biss sich auf die Lippe, während Frau Schrieberg ihre Fingernägel in Katharinas Arm grub. Seth und Jakob blickten ihren Vater erschreckt an, erwarteten, dass er meine Frechheit bestrafte, wie er es bei ihnen so oft getan hatte. Doch Herr Schrieberg lächelte mich nur kalt an. Goldzähne blitzten hinter seinem grau werdenden Bart, und mit seiner langen Knollennase, die sich unwillkürlich verzog, ähnelte er der Karikatur eines Juden, wie sie regelmäßig in den deutschen Zeitungen erschien. Als würde er eine versteckte Waffe aushändigen, nahm er seine schwarze Kippa von seinem dünner werdenden Haar und legte sie vor mich auf den abgenutzten Holztisch, der der Familie als Esstisch, Schreibtisch und Altar diente. Die Schriebergs würden nicht für die Seele meines Bruders beten. Ich funkelte den alten Mann an und dankte ihm mit einer gesunden Portion jugendlicher Vermessenheit, nachdem ich zum ersten Mal einen Erwachsenen eingeschüchtert hatte. Er hatte keine Wahl. Ohne ein weiteres Wort ging ich hinaus und rannte durch den Wald, bereute, zu einer solchen Taktik gegriffen zu haben, war aber gleichzeitig wie berauscht davon, meinen Willen gegenüber Menschen durchgesetzt zu haben, die älter waren als ich. Dass die Schriebergs meinen Forderungen nachgeben mussten, verlieh mir ein Gefühl der Macht und, wenigstens einen Moment lang, der Kontrolle über die unkontrollierbare Welt um mich herum. Zumindest musste ich nicht so leben wie sie. Wie Tiere.
Der Verband ist abgenommen worden. Auf der amputierten Stelle hat sich auf wundersame Weise Haut gebildet, dennoch weigere ich mich, den Stumpf meines rechten Armes anzusehen, geschweige denn zu berühren. Er macht mir Angst. Dr. Farris, der für Kinder mit amputierten Gliedmaßen zuständige Psychologe im Krankenhaus, versichert mir, das sei völlig normal.
»Ich habe viele Kinder in deiner Situation beraten, Brek«, sagt er. »Opfer von Autounfällen und von Verletzungen durch Feuerwerkskörper oder Bauernkinder wie dich. Die meisten reagieren genauso wie du. Sie glauben, das, was von ihren Armen und Beinen übriggeblieben ist, sind Monster, die sich auch den Rest des Körpers holen wollen, aber denk einfach daran, dass dies der Arm ist, mit dem du geboren wurdest. Er ist schrecklich verletzt und braucht deine Liebe und dein Mitgefühl. Du bist alles, was ihm geblieben ist. Meinst du, du schaffst das?«
»Ich werde es versuchen, aber es ist ungerecht«, weine ich.
Dr. Farris blickt auf seine Uhr. »Ups, die Zeit ist für heute um. Wir sehen uns dann nächste Woche wieder. Ich glaube, du wirst das ganz toll hinbekommen.«
Als ich den Warteraum betrete, liest meine Mutter eine Modezeitschrift. »Fertig?«, fragt sie.
»Ja.«
Luas steht vor Dr. Farris’ Büro. Meine Mutter sieht ihn nicht. Er streckt lächelnd seine
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