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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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gesprungen.
    Die Bombe, die die Dresdner Knabenschule am 22. April 1943 um 09:32 Uhr traf, zerlegte und opferte die zweiunddreißig kleinen Jungs sofort, die darin spielten, und verstreute ihre Arme, Beine und andere Körperteile mehrere hundert Meter von dort entfernt, wo sie zuvor noch zusammengehört hatten. Nazi-Funktionäre sammelten die Überreste auf und verteilten sie auf Tüchern in gleich große Haufen, einen für jede Familie, die glaubte, an diesem Tag einen Sohn in der Turnhalle verloren zu haben. Mit tröstenden Worten verkündeten sie während der Trauerfeier, dass die Kinder das höchste Opfer für ihr Vaterland gebracht hätten und wir alle sehr stolz auf sie sein sollten. Trotz der dunklen Locken, die aus unserem kleinen Tuch herausragten, weinten wir und beteten, als läge unser kleiner blonder Helmut vor uns. Mama, die in Ohnmacht fiel, musste fortgetragen und eine Woche lang mit Beruhigungsmitteln versorgt werden.
    Meine Nase kitzelt. Ich hebe meine rechte Hand, greife aber daneben, versuche es noch einmal, greife wieder daneben, fuchtle, als würde ich eine Fliege verscheuchen. Mein Arm pulsiert und fühlt sich gleichzeitig taub an. Phantomschmerzen. Der Geist meines Unterarms verfolgt mich jede Nacht, gaukelt mir im Schlaf vor, er würde sich wieder an meinen Körper anfügen und die Funktionen ausüben, die ein Unterarm eben ausübt, zum Beispiel kitzelnde Nasen kratzen und Fliegen verscheuchen. Mit dieser Täuschung übt er Rache an mir wegen meiner Unachtsamkeit am Miststreuer, indem er genau in dem Augenblick verschwindet, in dem ich am Morgen meine Augen öffne, so dass ich immer wieder aufs Neue voller Schrecken mit ansehe, wie ein bandagierter Stumpf über mir zittert wie ein zerbrochener Schlagbaum im Sturm. Der Stumpf deutet wahllos auf die achtundsiebzig quadratischen Deckenplatten in meinem Krankenhauszimmer. Ich habe sie oft gezählt und weiß genau, dass es achtundsiebzig sind. Schwester Debbie, die an diesem Morgen Dienst hat, betritt das Zimmer und drückt den Stumpf wieder nach unten. Schmerzen zucken wie Blitze in mein Hirn und von dort zu meinen Stimmbändern. Sie entschuldigt sich.
    »Zeit fürs Frühstück und noch ein bisschen Morphium.« Sie nennt mich Schätzchen und bemuttert mich.
    Luas und Nana sitzen am Fußende meines Bettes. Ich weiß nicht, was sie hier tun. Ihre Münder bewegen sich, doch ich höre sie nicht, deswegen achte ich nicht auf sie. Haferschleim tropft von einem Löffel, der von Fingern gehalten wird, die noch nicht daran gewöhnt sind, Löffel zu halten, und läuft an meinem Kinn hinab. Schwester Debbie serviert mir das Betäubungsmittel nach dem Frühstück, injiziert es direkt in die intravenöse Kanüle, über die ich immer noch mit den Flüssigkeiten versorgt werde, die ich im Transporter meines Großvaters und in der Notaufnahme verloren habe. Der Mohnextrakt taucht mich in einen warmen, wohligen Schlaf, aus dem ich immer ungern zurückkehre.
    Auf Vorschlag von Vater Mushlitz vereinbarten alle Eltern der in der Dresdner Schule getöteten Jungs, als Zeichen ihres gemeinsamen Verlusts ihre grausamen Päckchen in einem Massengrab zu beerdigen. Alle außer meinem Papa.
    »Mein Sohn wird sein eigenes Grab bekommen!«, wütete er, ohne sich darum Gedanken zu machen, dass nur Gott alleine feststellen könnte, in welchen Tüchern Helmut lag. »Er wird nicht wie ein Tier begraben! Wie ein gemeiner Jude! Er wird im Familiengrab auf dem Friedhof außerhalb von Kamenz beerdigt!«
    Papa gab seinen Angestellten den Auftrag, ein Grabmal aus dem Beton und den verbogenen Stahlträgern der zerbombten Schule zu errichten, das dem Sohn eines reichen Industriellen würdig sein und die Feigheit seiner Mörder unvergesslich machen sollte.
    »Es muss dreimal so groß sein wie alle anderen Grabmäler auf dem Friedhof! Und ich will es sofort haben!«
    Er gestattete sich nur zwei Tage, um Helmut zu begraben und zu trauern. Dann kehrte er nach Polen zurück, weil die Kriegseinsätze, wie er erklärte, dort verstärkt worden waren, obwohl wir das Land bereits erobert hatten. »Das Dritte Reich benötigt dringend die erfahrenen Dienste von Jos. A. Rabun & Söhne auf verschiedenen Gebieten der nationalen Sicherheit, über die ich nicht reden kann«, erklärte Papa. Nach seiner ersten Polenreise hatte er aufgehört zu lächeln. Sein Blick war finsterer geworden, als fühlte er sich von etwas oder jemandem verfolgt.
    In dem halben Jahrhundert, seit Großvater Rabun die Türen

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