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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kimmel
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Blumenladen oder vielleicht eine Boutique, nichts, was zu anstrengend oder zu kompliziert wäre, doch Amina hörte, dass der unter finanziellem Druck stehende Zeitungsverlag zum Verkauf stand, und dachte, dass einen Zeitungsverlag zu besitzen interessanter wäre. Sie hatte geplant, den Herausgeber zu behalten, der den laufenden Betrieb weiterführen sollte, doch bald schon stimmte sie mit seinem redaktionellen Urteilsvermögen nicht mehr überein und warf ihn raus. Statt einen neuen Herausgeber einzustellen, entschloss sie sich, alles über das Zeitungsgeschäft zu lernen, und übernahm selbst die Leitung des Verlags. Damit würde sie ihr Leben neu beginnen und sich vielleicht leichter in ihre zweite Heimat integrieren. Wer wurde in einer Gemeinde mehr respektiert als der Herausgeber einer Lokalzeitung?
    Amina schüttelt den Kopf, während sie dem Grossisten am anderen Ende der Leitung mit der Auflösung des Vertrags droht, wenn er nicht mit den von einem Konkurrenten angebotenen zehn Prozent Rabatt gleichzieht. Der Grossist, ein französischer Kanadier, hat Mühe, ihr Englisch mit deutschem Akzent zu verstehen.
    Während dieses Telefonats klopft jemand an die Tür. Ein großer Mann mit Pomade im Haar steht auf der Schwelle. Hinter ihm herrscht reges Treiben in der Redaktion. Telefone klingeln, Reporter sprechen und tippen eifrig an ihren Schreibtischen. Der Mann an der Tür wirkt imposant, doch auch besorgt, als würde er wissen, dass er einer Feindin gegenübersteht, die noch gefährlicher ist als er. Dunkle Flügel aus Schweiß zeichnen sich auf seinem blauen Hemd ab, was nicht unbedingt ein Zeichen von Nervosität ist. Sowohl drinnen als auch draußen herrschen einunddreißig Grad, die relative Luftfeuchtigkeit beträgt hundert Prozent – Werte, wie sie im westlichen New York im Sommer immer gemessen werden.
    Der Mann bläht seine Wangen zu kleinen rosafarbenen Ballons auf, als er tief Luft holt und sie wieder ausstößt. Mit der rechten Hand wischt er sich mit einem bereits nassen Taschentuch über die glatte Stirn. In der linken Hand hält er einen langen Pappzylinder, wie ihn Architekten für ihre Blaupausen verwenden. Während er wartet, bis Amina ihr Gespräch beendet hat, lässt er den Blick seiner blauen Augen durchs Büro wandern wie zwei Schmeißfliegen, bis sie sich in der Ecke auf einer wunderschönen Tiffany-Lampe niederlassen. Sie streicheln die farbigen Glasblüten, schätzen ihren Wert ab und fliegen weiter zu einem gerahmten Schwarzweißfoto von Aminas Eltern an ihrem Hochzeitstag und einer Messingtafel, auf dem der Cheektowaga Register als beste Zeitung von New York im Jahre 1958 ausgezeichnet wird. Schließlich verweilt sein Blick auf einem Gemälde an der weißen Wand hinter Aminas Schreibtisch.
    Dieses außerordentlich wertvolle Kunstwerk, ein Ölgemälde, würde man eher in einem Museum als im Büro der Herausgeberin einer Zeitung vermuten. Es ist ein Original des französischen Impressionisten Edgar Degas, ein Geschenk an Amina von einem Mann, der dem jetzigen Besucher an der Tür sehr ähnlich war und sich in einem ähnlichen Dilemma befand. Auf dem Bild ist ein Vater mit Stoppelbart, einem leichten Mantel und einer Zigarre zu sehen, der durch einen Pariser Park geht. Er ist in Begleitung seiner beiden hübsch gekleideten Töchter und ihrem Hund, und alle bewegen sich gleichzeitig in unterschiedliche Richtungen. Wenn Amina morgens das Büro betritt und das Gemälde sieht, erinnert sie sich, wie sie mit ihrem eigenen Vater samstagmorgens Dresdens breite Prachtstraße auf dem Weg zum Büro von Jos. A. Rabun & Söhne entlangspazierte und anschließend zum Mittagessen in ein kleines Café ging. Manchmal trafen sie sich in dem Café mit Katharina Schrieberg und ihrem Vater.
    An der dem Gemälde gegenüberliegenden Wand in Aminas Büro steht ein Schrank aus poliertem Walnussholz mit vier Gedichtbänden aus dem Verlag Bette Press, den Amina mit dem Kauf des Zeitungsverlags gründete. Sie hatte den Verlag nach ihrer jungen Cousine benannt, die in Kamenz vergewaltigt und ermordet worden war. Auf dem Umschlag der Bände prangt in Goldblatt das Bette-Press-Verlagszeichen, ein rechteckiger Aufdruck eines kleinen Mädchens, das mitten in der Bewegung einer am dicken Ast einer Pappel hängenden Schaukel aufgenommen wurde. Ihr Haar und ihr Kleid flattern im Wind. Auf dem Regal steht der originale Holzschnitt dieses Verlagszeichens, noch immer mit der Tinte vom ersten Druck der Umschlagseiten überzogen.

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