Was danach geschah
schon die ganze Zeit. Du wolltest dich nicht erinnern, weil du noch nicht bereit dafür warst.« Ich hatte ihr nichts mehr zu sagen – sie hatte mich getäuscht. Jetzt musste ich meine Tochter suchen. Sarah musste irgendwo in Schemaja sein.
Ich rannte durch den Wald zum Bahnhof, riss die Tür weit auf und rief den Seelen darin zu: »Lauft! Lauft weg, solange ihr noch die Gelegenheit dazu habt!«
Doch sie wagten nicht, sich zu bewegen. Sie sahen mich ebenso misstrauisch an, wie die Rinder meinen Großvater angesehen hatten, ohne zu blinzeln, wenn er ihnen etwas Gutes tun wollte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie durch diese Tür gehuscht wären, doch damals hatten sie ihren Tod immer noch für eine Phantasie gehalten. Wie real er geworden war und wie bald schon das Jüngste Gericht über ihr Leben verhandeln würde!
Ich hatte die Bahnhofshalle ohne Augenbinde betreten, weil ich nach Sarah suchte. Welch grausame Aufgabe. In den Erinnerungen der Seelen erkannte ich, wie sie gestorben waren. Säuglinge, Kinder und Erwachsene in jeder erschreckenden Gestalt und in allen grausamen Formen des Todes hielten sich hier in der Halle auf – dahingesiecht durch Hunger und Elend, voller Blasen und Brandwunden, angenagt und verdaut, mit Löchern von Pistolenkugeln und klaffenden Wunden von Messern, blau angelaufen vom Ertrinken, aufgedunsen durch Verrottung, zerfetzt, zerhackt, zermalmt, vergiftet, getötet durch eigene und fremde Hand, gestorben durch Unfall, Krankheit, Alter, Einwirkung Gottes. Doch ihre Geschichten berührten mich nicht mehr. Jetzt interessierte mich nur noch eine Geschichte. Überall suchte ich nach Sarah, doch sie war nicht dabei. Obwohl ich mir sehnlichst wünschte, sie zu sehen, wie eine Mutter, die nach einer Katastrophe das Leichenschauhaus durchsucht, war ich erleichtert. Und dann erschreckt.
War sie bereits aufgerufen worden? War sie bereits verurteilt und ohne mich gegangen?
Hektisch rannte ich von der Bahnhofshalle fort, um sie woanders zu suchen. Mir fiel nur ein Ort ein, wo ich suchen könnte.
Mit dem goldenen Schlüssel, den Luas mir gegeben hatte, öffnete ich die Tür zum Gerichtssaal. Niemand sonst war hier. Nur Gott und ich, allein, im Heiligtum der Heiligtümer. Er hatte mir meine Tochter weggenommen. Ich war gekommen, um sie mir zurückzuholen. Ich war nicht so vertrauensselig wie Abraham und Isaak. Ich ging zum Stuhl des Präsentators und blickte den Saphirmonolithen entlang nach oben, wo ich die glatte Oberfläche nach dem Hauch eines Makels absuchte, der ein Zeichen für Anerkennung oder Mitleid sein könnte. Als ich nichts fand, fragte ich in aller Bescheidenheit angesichts meiner Nacktheit: »Kann ich sie sehen? Ich habe ihr das Leben geschenkt.«
Gott starrte weiter vor sich hin, ohne zu blinzeln und ohne zu erkennen zu geben, ob er mich oder meine Bitte wahrnahm oder ich viel zu unbedeutend war, um bemerkt zu werden.
»Wo ist sie?«, schrie ich aus voller Kehle.
Die Antwort kam als ohrenbetäubende Erschütterung von Stille – die Stille von Gottes Liebe, eingezogen in ein endloses Vakuum des Raumes, gehört von der Seele, nicht den Ohren, und auch von ihr und nicht dem Herzen beklagt. Ich blickte mich im Gerichtssaal um. Die Wände pulsierten mit der reinsten Energie des Universums, während gleich draußen, in der Bahnhofshalle, die Wände mit dem unschuldigen Blut der Menschheit besudelt waren – dem Blut derjenigen, die nach unerreichbaren Maßstäben von einem Richter verurteilt werden, der sich selbst des Verbrechens schuldig gemacht hat.
»Wo ist meine Tochter?«, schrie ich noch einmal. »Gott verdammt noch mal! Was hast du mit ihr getan?«
Gott erschuf alles.
Gott erschuf das Böse.
Gott ist alles.
Gott ist das Böse.
Gott wird das Böse bestrafen.
Daher muss Gott sich selbst bestrafen.
Ich reckte meine Arme nach oben, wie Haissem es getan hatte. Und gemeinsam mit allen Männern, Frauen und Kindern, die es seit Anbeginn der Zeit gab, rief ich:
»Ich präsentiere Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde … Er hat entschieden!«
Der Gerichtssaal zerbarst in eine Milliarde Pfeile aus Dunkelheit.
Ich befinde mich in einem wunderschönen Paradies. Mein Name ist Eva.
Ich bin Schöpfung, ein erster Gedanke und ein letzter, ein Anfang ohne Ende.
Ich bin ein Davor, ein Danach, ein Raum dazwischen.
Ich bin Geist, ein einzelner Atemzug Gottes.
Ich bin Liebe.
»Ich bin Liebe! Ich bin Liebe!«, singt die Luft. Auch das Wasser und die Geschöpfe, die
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