Was dein Herz nicht weiß
Demokratie aufs Spiel setzen?«
»Er setzt sein Leben nicht aufs Spiel. Er hat vielleicht ein paar Schläge abgekriegt, aber er ist durchaus noch lebendig. Und in Seoul ist er, weil dort so viel los ist.«
»Woher weißt du so viel über ihn? Ich dachte, er wäre bloß ein Bekannter von dir.«
Es hatte keinen Sinn, den Vater anzulügen. Soo-Ja warf die Arme in die Luft.
»Ich kann sowieso nichts sagen, was dir passt, darum sollte ich vielleicht einfach nur stumm hier sitzen.«
»Wenigstens hast du aufgehört, mir ständig Widerworte zu geben, was die Diplomatenschule angeht. Dafür kann ich ja immerhin dankbar sein. Mit dieser Entscheidung hast du dich wohl abgefunden.«
»Ja, das habe ich wohl«, antwortete Soo-Ja und wischte sich mit dem Handrücken den Anflug eines glücklichen und zugleich unergründlichen Lächelns von den Lippen.
Meine liebe Soo-Ja,
ich zögere ein bisschen, dir diesen Brief zu schreiben, denn ich will dich nicht in etwas Gefährliches hineinziehen. Doch die Proteste breiten sich inzwischen über Seoul hinaus aus und bahnen sich langsam den Weg in unsere Heimatstadt Daegu. Vielleicht hast du ja schon davon gehört – oder auch nicht, da die Regierung die Sache aus den Zeitungen fernhalten will – , dass einer unserer Nachbarn verschwunden ist. Es ist ein zwölfjähriger Schüler aus Won-dae-don, unserer Stadt. Er heißt Chu-Sook Yang und hat an einer Demonstration in Daegu teilgenommen; vermutlich in Jungantong. Unseren Unterlagen zufolge war er ein Mitglied unserer Gruppe. Nach der Demonstration ist er nicht nach Hause gekommen, und wir vermuten, dass dabei etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen ist.
Der Leiter der Ortsgruppe von Daegu, ein Medizinstudent namens Yul-Bok Kim, hat Kontakt zu der Mutter des Jungen aufgenommen, aber sie weigert sich, uns irgendwelche Informationen zu geben. Sie will nicht mal mit uns reden. (Haben sich die Handlanger des Präsidenten die Frau vielleicht schon vorgenommen?) Yul hat mich gefragt, ob ich sie kenne, und ich habe ihn ausgelacht, weil es nicht zu meinen Hobbys gehört, meine Wochenenden mit Zwölfjährigen aus den Slums zu verbringen. Aber dann kam mir der Gedanke, dass – selbst wenn ich die Leute nicht kenne – du ja vielleicht von ihnen gehört hast. Ich weiß, dass viele Menschen aus der Stadt in der Fabrik deines Vaters arbeiten. Auch wenn die Mutter des Jungen dich nicht kennen sollte, wäre sie sicher bereit, mit jemandem von deinem gesellschaftlichen Rang zu sprechen. Yul wohnt im Mangwon-Bezirk, nicht weit von dir. Ich habe dir seine Adresse und Telefonnummer beigelegt. Er wird darauf warten, dass du ihn kontaktierst – falls du in dieser Sache aktiv werden möchtest.
Min Lee
»Entschuldigung, Entschuldigung«, sagte Soo-Ja, während sie sich durch den Bus nach hinten arbeitete. Sie trug einen rosa Mantel mit Stickerei und hohem Kragen, eine rote Seidenbluse mit Schleife über der Brust und einen langen, cremefarbenen Polyesterrock. Auf dem Kopf steckte ein gelber Haarreif, der ihren Pony betonte. Sie sah aus, als wäre sie einfach nur auf einem Nachmittagsspaziergang.
Nach den Anweisungen, die sie bekommen hatte, sollte sie an der Haltestelle Won-dae-don in den Bus nach Dalseo-gu steigen und sich in die letzte Reihe setzen. Den Platz neben sich sollte sie frei halten. Während der Bus über die unbefestigte Straße und vereinzelte große Steine ratterte, verlor Soo-Ja mehrfach die Balance und musste sich an den metallenen Haltegriff klammern. Der Bus spuckte schwarze Rauchwolken und verdunkelte alles, was sie durch die Fenster sehen konnte.
Als sie endlich in der letzten Reihe angekommen war, ließ sie sich auf einen Stoffsitz sinken. Ein alter Mann mit einem breitkrempigen schwarzen Hut aus Rosshaar – solche Kopfbedeckungen waren schon seit den zwanziger Jahren nicht mehr modern – drehte sich zu ihr hin, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Soo-Ja funkelte ihn böse an, bis er sich abwandte und wieder mit seinen Freunden redete, vier weißhaarige Männer um die sechzig, die in den Reihen vor und neben Soo-Ja saßen. Sie schäkerten wie Teenager, berührten sich gegenseitig am Arm und machten Witze über die angeblich aphrodisierende Wirkung von Ginsengtee. Ihr Gelächter war rau und schien von den Wänden des Busses widerzuhallen.
Während Soo-Ja sie beobachtete, musste sie an einen Lehrer denken, von dem sie in der Schule unterrichtet worden war. Er kam aus der Schweiz und hatte sich damals sehr über die physische
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