Was dein Herz nicht weiß
Ausdruckskraft der Koreaner gewundert. Tatsächlich bewegten Soo-Jas Landsleute sich gern und viel. Sie setzten ihre Körpersprache ein wie Satzzeichen und fuchtelten mit Armen und Fingern, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen – kurz, sie benahmen sich wie Priester, die voller Enthusiasmus zu ihrer Gemeinde predigten, auch wenn diese Gemeinde vielleicht nur aus ein oder zwei Zuhörern bestand. Als still konnte man die Koreaner wirklich nicht bezeichnen, im Gegenteil: Sie waren temperamentvoll, leidenschaftlich und allzu sentimental. Ihre Emotionen konnte man ihnen so deutlich am Gesicht ablesen wie dem Hauptdarsteller eines Films während einer Nahaufnahme, und sie genierten sich auch nicht, vor anderen zu schluchzen oder zu lachen.
»Gut. Ihr Gelächter wird unsere Unterhaltung übertönen«, sagte ein junger Mann und setzte sich auf den Platz neben ihr. Er schien wie aus dem Nichts gekommen zu sein, so effizient und unaufdringlich wie ein Komma. Soo-Ja schluckte nervös; das musste der Anführer der Studentengruppe sein.
Sie schwiegen einige Minuten, während derer Soo-Ja den Mann verstohlen musterte. Er trug eine rechteckige Brille und eine braune Cordjacke, ganz leger ohne Krawatte. Sein Haar war ungekämmt, aber nicht ungepflegt, so, als hätte er Besseres zu tun als lange vor dem Spiegel zu stehen. Ein bisschen wirkte er wie ein europäischer Beatnik.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist. Ich hatte nämlich Angst, du würdest es dir doch noch anders überlegen«, sagte Yul, während er weiter geradeaus schaute. »Dass du hier bist, ist mehr, als wir von dir verlangen dürfen.«
»Das stimmt«, entgegnete Soo-Ja und blickte ebenfalls nach vorn. Sie beschloss, ihm nicht zu erzählen, wie sehr sie sich freute, dass man sie gefragt hatte. Wo sie auch hinging, überall redete man von der Studentenbewegung. Jetzt war sie ein Teil davon geworden, wenn auch unerwartet. Das machte sie stolz. »Aber trotz allem bin ich ja nur eine Frau, die mit dem Bus fährt. Du bist derjenige, der von der Polizei gejagt wird.«
»Da hast du recht. Aber mach dir keine Sorgen um mich. Die Polizei wird mir nichts tun. Das Letzte, was sie brauchen, ist ein Märtyrer, ein Gesicht für die Bewegung.« Dann senkte er den Kopf und sagte in ihre Richtung: »Und, kennst du Chu-Sooks Mutter?«
»Nein, aber Min hatte recht. Ihr Mann hat früher für meinen Vater gearbeitet. Sie denkt, ich will mit ihr über eine Lohnnachzahlung reden.«
»Das hast du sehr geschickt eingefädelt.«
»Ich habe etwas Geld dabei und eine Liste mit Fragen, die ich ihr stellen will«, sagte Soo-Ja und warf einen Blick in ihre Handtasche.
»Um die Fragen werde ich mich kümmern.«
»Mist«, zischte Soo-Ja und begann, in der Tasche zu kramen.
»Was ist?«, fragte Yul und blickte sich sofort um.
»Nachdem ich die Fragen auswendig konnte, habe ich in die Tasche gegriffen, um die Liste wegzuschmeißen, aber ich habe das falsche Papier erwischt und versehentlich den Tausend-Hwan-Schein fortgeworfen«, klagte Soo-Ja.
Yul lächelte unwillkürlich und schaute ihr zum ersten Mal direkt ins Gesicht. »Vielleicht ist er ja doch noch da.«
»Nein, ich habe ihn aus dem Fenster geworfen.« Soo-Ja erwiderte seinen Blick. »Oh je, da habe ich ganz schön viel Geld weggeworfen. Ich tauge wohl nicht zur Revolutionärin.«
»Wenn das so ist, sollten wir dir unsere geheimen Pläne wohl besser nicht anvertrauen«, lächelte Yul.
Er sah gut aus, wenn er so dreinschaute, dachte Soo-Ja und betrachtete ihn: seine hohen Wangenknochen, seine Alabasterhaut und seine Augen, geformt wie Lorbeerblätter. Überrascht stellte sie fest, wie bodenständig er wirkte – und dass er ein bisschen nach Kakao duftete. Am liebsten hätte sie an seinem Hals gerochen und seinen Duft eingeatmet, aber sie hielt sich natürlich zurück.
Soo-Ja lächelte innerlich. Die Spannung von vorhin hatte sich gelöst. Der Bus hielt an, und die alten Männer standen auf, um auszusteigen. Draußen wartete eine andere Gruppe darauf, einzusteigen. Soo-Ja schaute wieder zu Yul. Die Sonne schien jetzt durch das halb geöffnete Heckfenster und tauchte seinen Hinterkopf in ein warmes Licht.
»Min hat erzählt, du studierst Literatur, willst aber Diplomatin werden?«, fragte Yul und beobachtete aufmerksam, wer den Bus verließ und wer neu dazukam. Soo-Ja war sich nicht sicher, ob er ein wirkliches Interesse an ihr hatte, oder nur versuchte, eine ungezwungene Atmosphäre zu schaffen.
»Die beiden Felder sind gar
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